
Wege eines sie ausgrenzenden Lebens führen zwei Roma-Söhne in einer Wohnung in Budapest zusammen: Szilveszter (Zsombor Jéger, re.) und Jónás (Dáriusz Kozma) in "Scheinleben".
Wien – 1928 haben sich in Ungarn die Gesetze gegen Roma vehement verschärft. Auf die Registrierung der "Wanderzigeuner" folgten gezielt Razzien; das Wandergewerbe wurde verboten. In Österreich legte zeitgleich die vom Bundespolizeikommissariat Eisenstadt verfügte "Zigeunerkartothek", in der etwa 8000 Roma namentlich und mit Fingerabdrücken erfasst waren, die Grundlage für spätere Deportationen.
In einem Detail, einem Plattencover mit der Aufschrift "1928", das im Stück Látszatélet (dt. Scheinleben) im Wohnzimmer im Eck steht, verweist der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó auf dieses Datum. Scheinleben hatte am Samstag bei den Wiener Festwochen Uraufführung in der Halle G. Es ist ein grandioser Abend, an dem sich die von Gewalt und Lautstärke geprägte Handschrift Mundruczós erstmals subtiler zeigt. Ohne aber an Kraft zu verlieren. Eine ältere Frau, Angehörige der Roma-Minderheit, soll zwangsausgesiedelt werden.
Ihr besorgtes, vom Druck eines gesellschaftlich boykottierten Lebens gezeichnetes Gesicht blickt von der Leinwand. Der Mann vom Inkassobüro (Roland Rába) hat gleich eine Kamera mitgebracht. Sie, Lörinc Ruszó (Lili Monori), wehrt sich gegen diese Unart des Ausforschens und Angstmachens. Die Tragödie ihres Lebens bricht dabei allmählich aus ihr heraus: Als Folge der strukturellen Ausgrenzung und Diffamierung von Roma und Sinti trat ihr eigener Sohn Szilveszter (Zsombor Jéger) die Flucht nach vorn an. Er badete in Bleichmitteln, gab sich einen neuen Namen, verließ und verleugnet die Familie.
Mundruczó lässt es krachen
Bis zur Erschöpfung dringt die Frau zum wunden Punkt vor, dann hebt sich die Leinwand, und hinter dem Videobild offenbart sich die wahre Szene des Gesprächs. Die Frau taumelt zum Küchenschrank, geht zu Boden. Der Geldeintreiber ruft den Notarzt. Die Antwort aus dem Hörer lautet: "Für diese Siedlung gelten andere Bestimmungen."
Ein Gewitter bricht los. Und dann lässt es Mundruczó krachen. Die Wohnung der Romafrau beginnt zu kippen. Das vollgeräumte Altbauzimmer wird sich vollständig um die eigene Achse drehen: eine langsame und gut zu studierende Bewegung, die einen Gewaltakt versinnbildlicht, in den das behördliche Vorgehen der Zwangsräumung genauso eingeschrieben ist wie die gesellschaftliche Missachtung: ein markerschütternder Anblick.
Es werden zunächst Tische umkippen, sich das Kreuz von der Wand lösen, Stofftiere herumpurzeln, es wird dann der Plattenspieler hinunterfallen; irgendwann werden das Bügeleisen und das Telefon nur mehr am Kabel von der Decke hängen; später stürzt das Gemüse aus der aufgeschlagenen Kühlschranktür usw. Die zum Gerümpel gewordenen Gegenstände dieses ausgelöschten Familienlebens hindern die Nachmieterin nicht am Einzug: eine alleinerziehende Mutter in Not.
Wenn Räume aus den Angeln gehoben werden, gibt es immer gute Gründe. Meist werden dadurch gesellschaftliche Schieflagen abgebildet, wie das etwa Frank Castorf bei Endstation Sehnsucht getan hat. Oder man verlängert die schrägen Perspektiven der Protagonisten, zum Beispiel in den Texten Franz Kafkas, siehe Andreas Kriegenburg bei Der Prozess oder auch – um nicht immer nur deutschsprachige Theater zu nennen – das isländische Vesturport-Theater in der Verwandlung.
Kornél Mundruczó begreift die existenzerschütternde Zimmerumdrehung als narrativen Akt: Anstelle von Worten lässt er die ins Chaos stürzenden Gegenstände sprechen (Bühne: Márton Ágh) – und das mit großer Wirkung.
Realer Fall
Das mit seiner Theatergruppe Proton entwickelte Stück (Text: Kata Wéber) basiert auf einem realen Fall, der sich 2015 in Ungarn ereignet hat: Ein junger Mann attackierte einen Jugendlichen mit einem Schwert, beide gehörten zur Volksgruppe der Roma. Scheinleben bezieht sich zum anderen auch auf Douglas Sirks stilbildendes Filmmelodrama Imitation of Live, das eine Geschichte der Ausgrenzung im Amerika der Nachkriegszeit nachzeichnet.
Mundruczó befasst sich, auch in seinen Filmen (zuletzt White God), mit den klaffenden Wunden der (ungarischen) Gegenwart. Wie sehr er dabei ist, seine Theatersprache weiterzuentwickeln, beweist er mit dieser Inszenierung.
Weniger Form, aber auch nicht sehr viel Inhalt war in der freitägigen Premiere von Falk Richters Città del Vaticano im Schauspielhaus verpackt. Ein tolles Ensemble aus Tänzern und Schauspielerinnen machte sich auf, die Kluft zwischen "christlichen Werten" und der Beschaffenheit der Amtskirche zu vermessen, und landete bei Plattitüden. Da half auch der imaginierte Song-Contest-Beitrag des Vatikans nichts. (Margarete Affenzeller, 22.5.2016)