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UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und der türkische Präsident Tayyip Erdoğan bei der Eröffnung des UN-Gipfels für humanitäre Hilfe.
Das Zelt hat in etwa die Länge einer Interkontinentalmaschine, unten, vom Bosporus, kommt eine frische Brise herauf, und oben, auf dem Hügel von Beyoğlu, wird über die Welt nachgedacht und die Not von derzeit 125 Millionen Menschen. "Pflasterl picken reicht nicht mehr", sagt Werner Kerschbaum.
Der Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes sitzt für einen Moment im weißen Zelt seiner Organisation auf dem Gelände des Istanbuler Kongresszentrums. Getagt wird drinnen. Kaum einer bei diesem ersten UN-Gipfel für humanitäre Hilfe sagt etwas anderes: Das Geld für die Opfer von Kriegen und Katastrophen muss neu und besser verteilt werden, viel langfristiger geplant, viel näher an den Einsatzorten. "Wir rennen nur immer hinterher und räumen die Trümmer auf", sagt Werner Kerschbaum. Der Zeitpunkt sei jetzt günstig, um die internationale Hilfe grundlegend umzubauen.
Politische Floskeln
Vier Jahre lang hat der nun scheidende UN-Generalsekretär Ban Ki-moon diesen Gipfel vorbereiten lassen. Das Management ist noch im März ausgewechselt worden. Ärzte ohne Grenzen war die prominenteste Hilfsorganisation, die nach monatelanger Arbeit an der Konferenz die Tür zuschlug. Der Gipfel scheitert, sagte die NGO voraus. Humanitäre Hilfe werde in Entwicklungsarbeit und politischen Floskeln aufgelöst.
Ganz so war es dann doch nicht, als das Gipfeltreffen am Dienstag nach zwei Tagen Reden von Staats- und Regierungschefs, NGOs und Aktivisten schloss. Der Schutz von Zivilisten und der Zugang zu den Opfern in Konfliktgebieten standen, anders als Ärzte ohne Grenzen befürchtet hatte, auch auf der Agenda in Istanbul.
Vor allem die häufig gewordenen gezielten Angriffe auf Spitäler und Schulen in Syrien, Nigeria oder Pakistan wurden auf dem Gipfel immer wieder angeprangert. Weltweit vier Schulen oder Krankenhäuser am Tag würden von bewaffneten Kräften oder Gruppen angegriffen, gab die Unicef an. Fast die Hälfte der 692 Schulen des UN-Hilfswerks UNRWA in Nahost seien in den vergangenen fünf Jahren zerstört oder angegriffen worden.
"Der Arzt meines Feindes ist mein Feind"
Auch einer der Bombenanschläge am Montag in den syrischen Küstenstädten Tartus und Jablus war auf die Notaufnahme eines Krankenhauses gerichtet. "Der Arzt meines Feindes ist mein Feind" sei das neue Gesetz in Kriegen, stellte Jan Egeland, der Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrats (NRC), einer der wichtigsten Hilfsorganisationen, empört fest. Der Respekt vor der Neutralität medizinischer Helfer, einer der Grundsätze des humanitären Rechts seit der Schlacht von Solferino 1859, sei gebrochen, sagte Egeland vor Journalisten: "Mit Syrien sind wir wieder zurück auf null."
Der Ruf nach politischen und legalen Konsequenzen aus dem Krieg in Syrien wurde überall auf dem Gipfel in Istanbul laut. Humanitäres Völkerrecht dürfe nicht ohne Konsequenz gebrochen werden, sagte der deutsche Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Gerd Müller, immerhin ein Politiker der konservativen bayerischen CSU, plädierte für eine weltweite Verdoppelung der Entwicklungshilfe und einen neuen Kriseninfrastrukturfonds der Uno. "Wir können uns nicht von Krise zu Krise, von Gipfel zu Gipfel bewegen", sagte Müller. Hilfe müsse langfristig gesichert werden.
Viel Geld, viel Ineffizienz
Kristalina Georgiewa, eine der Vizepräsidentinnen der EU-Kommission und eine frühere Weltbank-Managerin, hatte im Auftrag von Uno-Chef Ban die Finanzierung der humanitären Hilfe auf der Welt unter die Lupe genommen. Ihr Fazit: Noch nie war so viel Geld da, doch noch nie war die Hilfe auch so unzureichend. Die 25 Milliarden Dollar, die derzeit für die 125 Millionen Menschen in Not ausgegeben würden, reichten nicht.
Georgiewa schätzt die Finanzlücke auf 15 Milliarden Dollar. Geld müsse vorgeplant und näher an Helfer vor Ort gebracht werden, erklärte sie, die Organisation schlanker und transparenter. Weniger als fünf Prozent der Mittel gelangen in die Hände von lokalen Hilfsorganisationen. Beim Gipfel in Istanbul schlossen Geber und Hilfsorganisationen deshalb einen "großen Handel" – den "Grand Bargain": langfristigere Finanzierung von Hilfe für besser kontrollierte Ausgaben der Helfer.
Die 70 Staats- und Regierungschefs verpflichteten sich unter anderem, sich stärker für die Vermeidung und Lösung von Konflikten einzusetzen. Österreich war beim UN-Gipfel für humanitäre Hilfe nicht auf Regierungsebene vertreten. (Markus Bernath aus Istanbul, 24.5.2016)