Es ist zum Haareraufen: Boris Johnson, Enfant terrible der Konservativen und bis vor kurzem Londoner Bürgermeister, droht mit seiner Kampagne für einen Ausstieg aus der EU zu scheitern.

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Das Publikum in der Londoner Methodistenhalle beklatschte sie freundlich, und der Anteil der Austrittsbefürworter wuchs im Lauf des Abends von 17 auf 30 Prozent. Und doch mochte bei der Labour-Abgeordneten Gisela Stuart, Vizevorsitzenden der wichtigsten Brexit-Lobbygruppe "Vote Leave", am Montagabend kein rechter Frohsinn aufkommen. Der Grund: Gut vier Wochen vor der Volksabstimmung sind die EU-Feinde in den Umfragen eklatant zurückgefallen.

Schon beginnen erste Schuldzuweisungen. Jüngste Befragungen hatten mehr Verwirrung gestiftet, als Klarheit geschaffen. Während Telefonumfragen einen deutlichen Vorsprung für den EU-Verbleib ergaben, deuteten Umfragen per Internet auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin.

In wichtigen Wählergruppen vorwan

Hingegen lassen die Ergebnisse der Meinungsforschungsfirma ORB, veröffentlicht im EU-feindlichen Daily Telegraph, kaum einen Zweifel: Premier David Cameron und die Lobby "Britain stronger in Europe" liegen in allen wichtigen Gruppen vorn.

Ausgerechnet jene Wähler, die bisher als solide Unterstützer galten, nämlich Pensionisten, Tory-Wähler sowie Männer insgesamt, scheuen das Risiko und sprechen sich für den EU-Verbleib aus. Insgesamt ermittelte ORB 55 Prozent für den Verbleib und 42 Prozent für den Brexit – mit nur noch drei Prozent Unentschlossenen.

Zur Begründung wird auf die beinahe täglichen, zum Teil apokalyptischen Warnungen vor einem Wirtschaftseinbruch verwiesen, den das Cameron-Lager für den Fall des Brexit beschwört.

"Schwerer Schock"

Am Dienstag beschwor der Premierminister vor Angestellten des Billigfliegers Easyjet die Gefahr höherer Reisekosten herauf. Die zu erwartende Abwertung des Pfundes werde Ferien im Rest Europas teurer machen.

Am Montag hatte eine Expertise des Finanzministeriums bestätigt: Sollten die Briten am 23. Juni für den EU-Austritt stimmen, müsse man mit einem "schweren kurz- bis mittelfristigen Schock" rechnen. Das Bruttoinlandsprodukt würde binnen zwei Jahren um 3,6 Prozent sinken, 820.000 Jobs würden verlorengehen.

Das Lager der Austrittsbefürworter hat dem Sperrfeuer wenig entgegenzusetzen, im Gegenteil: Ernst zu nehmende Ökonomen wie Andrew Lilico von der Brexit-Lobbygruppe "Ökonomen für Britannien" oder Gerard Lyons, Berater des Londoner Ex-Bürgermeisters Boris Johnson, räumen die Wahrscheinlichkeit eines kurzfristigen Schocks ein, sehen aber mittel- und langfristig rosige Perspektiven. Hingegen reden führende EU-Feinde nonchalant über mögliche Jobverluste sowie Gehaltseinbußen. "Um frei von Brüssel zu sein, würde ich Gras essen", schreibt etwa Guardian-Kolumnist Pfarrer Giles Fraser.

Gegenseitige Schuldzuweisung

Der bittere Ton der Brexit-Befürworter lässt auf die Stimmung schließen. Ex-Finanzminister Nigel Lawson warf seinen früheren Beamten vor, sie würden sich "prostituieren" – sein Nachfolger und Parteifreund George Osborne wäre so etwas wie ein Zuhälter. Ex-Sozialminister Iain Duncan Smith ruft das Wahlvolk auf, Osborne "kein Wort" zu glauben.

Innerhalb des Lagers der EU-Feinde werden erste Schuldzuweisungen erprobt. So veröffentlichte "Leave.EU" im Internet die Mobiltelefonnummern führender "Vote Leave"-Leute. Diese sollen unter Druck gesetzt werden, damit der Ukip-Vorsitzende Nigel Farage eine prominentere Rolle im Abstimmungskampf erhält. (Sebastian Borger aus London, 25.5.2016)