Wien – Mit der Uraufführung von Árpád Schillings und Éva Zabezsinszkijs Eiswind/Hideg szelek in deutscher und ungarischer Sprache beendet das Burgtheater den Premierenreigen der Spielzeit. Der ungarische Theatermacher, der das Stück gleich selbst inszeniert, wirft damit im Akademietheater im besten Sinne mehr Fragen auf, als er beantwortet.

Nämlich treffen in diesem psychologisch satten Kammerspiel zwei Familien, mehr noch: Lebenswelten, aufeinander. Zum einen die liberale Welt des Schreibtischlinken Frank (Falk Rockstroh). Er hat sich in Bequemlichkeit eingerichtet, seine Karrierefrau Judith (Alexandra Henkel) aus wohlhabender Familie eröffnet ihm ein komfortables Leben. Darüber wird er jetzt moralisch, es widert ihn die kapitalistische Verkommenheit der Intellektuellen an. Sohn Felix (Martin Vischer) ist dank guter Geburt recht lasch geraten.

Und zum anderen Ilona (Lilla Sárosdi) und ihr Mann János (Zsolt Nagy) vom bodenständigeren Schlag. Die Ungarin ist vor zwei Monaten aus der Heimat geflohen. Die politischen Verhältnisse dräuten gemeinsam mit privaten: Der Sohn (per Video: András Lukács), den sie zurückgelassen hat, besucht dort ein "Gymnasium zur nationalen Verteidigung". Gegen wen? "Leute, die mein Vaterland besetzen wollen: durch Taten oder Gedanken."

V.l.n.r.: Zsolt Nagy (János), Martin Vischer (Felix), Alexandra Henkel (Judith), Falk Rockstroh (Frank), Lilla Sárosdi (Ilona).
Foto: Reinhard Werner

Unheilvolle offene Fragen

Schauplatz der ungleichen Begegnung ist eine Hütte im Wald, Juli Balázs hat dazu eine schicke hölzerne Zelle auf Stelzen vor schwarzen Grund gestellt. Langsam beginnt dieser in die Szenen einzusickern – unbestimmbar, aber unheilvoll. Ungereimtheiten gibt es von Anfang an – wie etwa hat János die vor ihm Geflohene hier gefunden? Dazu scheint ein Rudel Wölfe um die Hütte zu streifen. Und es zieht ein Sturm auf. Überraschend viel Dosenmüll trollt sich auf diesem Waldboden.

Begegnen die fünf einander erst unter Vorbehalten, schwenkt die Konstellation im Lauf des Stückes immer wieder in wechselweises Wohlwollen und Anspannung. Worum es den Fremden geht, wird erst nach und nach klar, dann ist es schon zu spät. Als das Geschehen sich mit einer Handvoll Gewitztheit in einen grotesken Turn ergibt und eskaliert, hilft kein Maschendrahtzaun mehr: Der Feind ist schon im eigenen Haus. Seine Motive bleiben aber rätselhaft.

Die Sympathie der Tatkraft

Die Radikalisierung Europas, das Wiedererstarken des Nationalismus sind Schillings Themen, an denen sich auch das Programmheft gütlich tut. Das wüsste man lieber nicht so explizit. Viel zu sympathisch sind János und Ilona, als dass man mit Vorbehalten an sie herangehen wollte. Kraftlos, ohne Ideale, eitel zeigt sich die vermeintliche Elite. Wie tatkräftig packen hingegen die mit den dreckigen Fingernägeln und schnodderigen Kleidern an!

Man hätte dafür allerdings gar nicht bis nach Ungarn gehen müssen, den Nachbarn sozusagen verunglimpfen. Engstirnige, wütende, gekränkte, komplexbeladene Ungustln von János' Schlag findet man auch hierzulande. Soll es halt der Herkunft Schillings, des zweisprachigen Spiels und eines Kommentars zur Politik Viktor Orbáns wegen so sein. Doch: Schuld sind nicht die Ausländer, der Feind ist das Denken von gestern! Deshalb ist es auch eine männliche Krise, die Schilling zwischen moderner Orientierungslosigkeit, tradiertem Machismus und rechten Tugenden durchspielt. Gut und Böse gestalten sich diffizil.

Foto: Reinhard Werner

Die dabei zustande kommenden Situationen und Bilder sind stark bis grandios. Während etwa ihre Männer auf dem Dach der Wölfe harren, wäscht Judith dem in Siegerpose dastehenden Okkupator zum Freischütz den kräftigen Körper. Das unheilvolle Glied reckt er stolz gen Publikum, ehe sie es ihrer mythologischen Namensgeberin gleichtut und seinen Hals durchtrennt.

Am Ende stehen Andeutungen im Raum. Und mit ihnen Fragen. Verdienter Applaus für alle Beteiligten eines bravourösen Abends. (Michael Wurmitzer, 26.5.2016)