Das renommierte US-Wirtschaftsmagazin "Inc" wollte vor wenigen Monaten von großen amerikanischen Risikokapitalgebern wissen, welche Firmen aus dem Silicon Valley ihrer Meinung nach 2016 durchstarten werden. Platz eins für das innovativste Unternehmen ging an Vulcun. Die Firma hat eine Onlineplattform entwickelt, auf der User mit echtem oder fiktivem Geld auf den Ausgang von Online-Videospielen wetten können. Ebenfalls in die Top Ten schaffte es Juicero. Das Start-up verkauft eine neuartige Saftpresse, die angeblich nicht nur einfacher zu bedienen ist als herkömmliche Entsafter, sondern sich auch mit dem Internet verbinden lässt und dabei neue Rezepte lernen kann.
Nimmt man das Ergebnis dieser Befragung als Maßstab, hat die Weltwirtschaft ein ziemlich großes Problem. Zu den großen Entdeckungen vergangener Jahrhunderte zählten der Verbrennungsmotor und die Dampflokomotive. Und was kommt heute aus dem Silicon Valley, dem immerhin innovativsten Flecken Land der Erde? Ein Onlineentsafter und eine Website, auf der man darauf wetten kann, welche Spieler einander bei virtuellen Schießereien schneller umlegen.
Produktivität hält nicht Schritt
Selbst wenn die Produkte kommerziell erfolgreich sein sollten, ist klar, dass der breite wirtschaftliche Nutzen dieser IT-Innovationen gleich null sein wird.
Gut möglich, dass sich da ein tiefer liegendes Problem offenbart. Lange galt es als Gewissheit, dass die Nutzung von Computern, E-Mails, Internet, Smartphones nicht nur unseren Alltag verändert, sondern auch die Produktivität der Menschen erhöht, also mehr Wohlstand schafft. Doch die Realität hat mit dieser Erwartungshaltung nicht mitgehalten. Auf den wirtschaftlichen Kollaps nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 folgte eine lange Phase der Stagnation, die bis heute anhält.
Erstmals seit 1945 lag das Wachstum in Österreich in den vergangenen vier Jahren durchgehend unter einem Prozent. In der Eurozone sah es ähnlich miserabel aus, und bis 2017 prognostizieren Ökonomen kaum mehr als einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,5 Prozent. In Japan ist das Wachstum nur knapp über der Nulllinie. Kanada schwächelt. In den USA ist die Situation zwar besser, aber bedenkt man, wie billig Erdöl seit Monaten ist und wie günstig Unternehmen derzeit dank der niedrigen Zinsen an Kredite kommen, dann sehen sogar die Zahlen aus den Vereinigten Staaten enttäuschend aus.
Unter Ökonomen tobt eine Debatte darüber, was die Ursachen der Stagnation sind. Die Bruchlinien der Diskussionen kennt man aus Österreich. Hindert die Bürokratie Unternehmen daran durchzustarten, oder ist die hohe Steuerlast schuld? Sind die Schulden zu hoch, oder wurde im Gegenteil zu viel gespart?
Der Haken daran ist, dass hier lokale Antworten auf ein globales Phänomen gesucht werden. Und so gibt es eine Reihe von Wissenschaftern, die eine ganz andere These vertreten: Die Industrieländer leiden ihr zufolge alle am gleichen Übel. Ihnen sind die innovativen Ideen ausgegangen, die Wachstum bringen. Google, Facebook, Smartphones, Tablets, iTunes und Wikipedia mögen im Alltag nützlich sein. In puncto Produktivität und Beschäftigung sind sie wertlos.
Bibel für die Pessimisten
Der US-Ökonom Robert Gordon hat für die Anhänger dieser wachstumspessimistischen Denkschule eine Bibel geschrieben. In seinem 760-seitigen Werk The Rise and Fall of American Growth, das heuer erschienen ist, argumentiert der Wissenschafter von der Northwestern University in Chicago, dass wir den hohen Lebensstandard der Gegenwart nur einer ganz kurzen Periode zwischen 1870 und 1940 zu verdanken haben. In diese Zeit fallen die großen Erfindungen.
Gordon beschreibt drei industrielle Revolutionen. Die erste brachte die Dampfmaschine, die Eisenbahn und den Webstuhl hervor. Fast wichtiger für den Autor ist aber jene zweite Revolution ab 1870, in deren Rahmen die Elektrizität entdeckt und der Verbrennungsmotor entwickelt wurde. Traktoren revolutionierten die Landwirtschaft, das Fließband die Arbeit in der Fabrik. Dank des Automobils konnten Unternehmen Märkte erschließen, die bis dahin außerhalb ihrer Reichweite gewesen waren.
Durch neue Massenprodukte reduzierte sich der Aufwand für Hausarbeit, weshalb Menschen mehr Zeit für wirtschaftlich produktive Tätigkeiten blieb. Im 19. Jahrhundert verbrachte eine Hausfrau in Amerika im Schnitt zwei Tage der Woche mit Wäschewaschen. Waschmaschine und Bügeleisen reduzierten diesen Aufwand auf einige Stunden. Durch Erfindungen wie Kanalisation und Kläranlage verbesserten sich die Hygienebedingungen. Unternehmen standen also mehr und gesündere Menschen als Arbeitskräfte zur Verfügung. All das trug zum rasanten Wachstum der Produktivität zwischen 1920 und 1970 bei, schreibt Gordon. Binnen weniger Jahrzehnte stieg der Wohlstand stärker an als in den 1000 Jahren davor.
Doch ab den 1970er-Jahren reduzierten sich die Zuwachsraten. Die USA sind da kein Einzelfall: der STANDARD hat das Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien um eine Auswertung der Zahlen zur totalen Faktorproduktivität (TFP) in Österreich ersucht.
Mit dieser Maßzahl bewerten Ökonomen den technischen Fortschritt. Sie zerlegen das Wirtschaftswachstum in seine Einzelteile und rechnen jenen Teil des Zuwachses heraus, der nur darauf beruht, dass mehr Menschen arbeiten gehen oder Investoren mehr Geld ausgeben. Der Rest an Mehrwert, der übrig bleibt, zeigt an, wie sich der technische Fortschritt entwickelt.
Der steile Aufstieg ist zu Ende
In Österreich stieg die TFP zwischen 1961 und 1970 im Schnitt um 3,3 Prozent pro Jahr an. Das Jahrzehnt darauf waren es nur noch 1,3 Prozent, dann folgte nur mehr eine Steigerung von einem Prozent pro Jahr.
Bereits vor Ausbruch der Finanzkrise lag das Produktivitätswachstum kaum mehr über der Nulllinie. Für Frankreich und Deutschland sind die Zahlen ähnlich. Diese Werte sind "als deutliches Zeichen für einen Rückgang des technischen Fortschritts zu betrachten", sagt der Ökonom Klaus Weyerstraß vom IHS. "Da die Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Lauf der Jahre gestiegen sind, scheint vor allem die gesamtwirtschaftliche Wirkung dieser Ausgaben zu fehlen."
Diese Aussage passt zur These Gordons, wonach die dritte industrielle Revolution, die digitale, zur materiellen Wohlstandsvermehrung kaum noch beiträgt. Internet und E-Mail haben die Produktivität der Industrieländer nur für einen kurzen Zeitraum zwischen 1994 und 2004 erhöhen können. Spätere Neuerungen wie das Smartphone machen sich statistisch kaum bemerkbar.
Dafür gibt es viele Erklärungen. Die meisten Menschen arbeiten heute im Dienstleistungssektor, und die IT-Neuerungen bringen dort nur begrenzte Fortschritte. Sogar wo Menschen ersetzbar sind, wie an der Supermarktkasse, haben sich Automaten bisher nur begrenzt bewährt. Die meisten Innovationen betreffen Unterhaltung und Kommunikation, spielen also in Produktionsabläufen von Betrieben eine untergeordnete Rolle. Hinzu kommt, dass sich die digitale Revolution in den Haushaltsausgaben im Gegensatz zu früheren Umbrüchen nur begrenzt widerspiegelt.
Laut einer Erhebung der Statistik Austria aus dem Jahr 2010 gibt ein Haushalt im Schnitt nur 3,7 Prozent seines Einkommens für Mobiltelefone, Internet, Computer und alle anderen Arten von Unterhaltungselektronik aus. Das Konsumverhalten hat sich also weniger verändert, als viele glauben.
Die neuen IT-Unternehmen schaffen vergleichsweise auch wenige Jobs, die Menschen Einkommen und damit Kaufkraft bringen. Google, Microsoft und Apple sind aktuell die drei wertvollsten Unternehmen der Welt: Zusammen beschäftigen sie direkt bloß 250.000 Mitarbeiter weltweit. Allein ein Industriebetrieb wie Siemens kommt auf 350.000 Angestellte.
Überschätzte Roboter
Geht es nach Technologiepessimisten wie Gordon, wird das Wachstum auch in Zukunft nicht anziehen. Nichts lasse darauf schließen, dass ein 3-D-Drucker, Roboter, selbstfahrende Autos oder Drohnen noch einmal ein ähnliches Potenzial entfalten werden wie das Automobil, Elektrizität oder das Flugzeug. Ein Beispiel: Ein selbstfahrendes Auto mag nett sein, weil Familienmitglieder sich dann bei einer Fahrt intensiver unterhalten können. Es könnte Menschen auch zu mehr Car-Sharing animieren, also der Umwelt helfen. Die Produktivität beeinflusst das alles aber nicht.
An diesen Gedanken gibt es jede Menge Kritik. Eine lautet, dass mit der Kennzahl BIP die Produktivitätssteigerungen durch IT-Innovationen gar nicht richtig erfasst werden können. Ein Softwareprodukt, das immer gleich viel kostet, aber jedes Jahr mehr leisten kann, verzerrt die Statistik, weil dieser technische Fortschritt mit dem BIP nur schwer zu erfassen ist. Forscher des renommierten Brookings-Instituts in Washington haben im März eine Studie zu dem Thema präsentiert. Ergebnis: Selbst wenn man die Qualitätssteigerungen bei IT-Produkten stärker berücksichtigt, ändert das an der schwachen Produktivitätsentwicklung nichts.
Der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), Karl Aiginger, ist trotzdem skeptisch: "Es gibt einen Mix an Ursachen, die für das schwache Wachstum verantwortlich sind", sagt Aiginger, "die Innovationsschwäche spielt dabei wahrscheinlich die geringste Rolle." Investoren hätten in der jüngeren Vergangenheit zu viel Geld in die Finanzmärkte und zu wenig in die Realwirtschaft investiert. Staaten und Haushalte seien zu hoch verschuldet, weshalb sie zögerlich Geld ausgäben.
Doch Aiginger widerspricht den Technologiepessimisten in einem Punkt nicht: Das hohe Wachstum der vergangenen Jahrzehnte wird nicht zurückkehren.
Die Frage ist: Was folgt daraus? Eine Conclusio lautet, dass das BIP als wichtigster Indikator für das Wohlergehen der Gesellschaft ausgedient haben sollte. Denn die neuen Technologien bringen ohne Zweifel einen Wohlfahrtsgewinn. Wer am Wochenende heimwerkt und sich Tipps online holt oder ein krankes Kind zu Hause hat und den passenden Arzt im Internet findet, profitiert unzweifelhaft von der digitalen Revolution. Nur drückt sich das nicht in Wachstum aus. Das BIP misst also nicht falsch, es erfasst Phänomene ungenügend.
Das BIP hat ausgedient
Statistiker haben inzwischen zusätzliche Indikatoren entwickelt. Aiginger schlägt vor, Lebensqualität stärker daran zu messen, wie es mit dem Umgang mit ökologischen Ressourcen steht, wie sich der soziale Zusammenhalt und die Einkommen entwickeln. Das Problem ist, dass sich solche Ansätze bisher nicht etabliert haben. Das BIP als Messgröße bleibt wegen seiner Einfachheit beliebt.
Entscheidender ist die zweite Frage, ob die Wachstumsschwäche überhaupt ein Problem ist. Nicht unbedingt, lautet darauf die Antwort von Ökonomen wie Gordon und Aiginger. Der materielle Wohlstand in Industrieländern wie Österreich oder den USA ist ja gewaltig. Die Erschließung neuer Märkte im Ausland, die wachsende Zahl an Arbeitnehmern und das verbliebene Produktivitätswachstum haben dafür ausgereicht, dass sich Österreichs reales BIP pro Kopf seit den 1970er-Jahren mehr als verdoppelt hat.
Statt nach mehr materiellem Wohlstand zu streben, wäre in der Lesart Gordons eine breite Debatte darüber notwendig, ob nicht bereits genug Reichtümer vorhanden sind und es nicht an der Zeit ist, mit dem auszukommen, was ist. Klar ist aber, dass sich gesellschaftliche Verteilungskämpfe mit Wachstum "leichter bewältigen lassen", wie das der Ökonom Weyerstraß formuliert.
Ein Beispiel: Wenn Österreichs Wirtschaft pro Jahr nicht mehr als zwei Prozent wächst, reicht das nicht aus, um Arbeitsplätze für alle Jobsuchenden zu schaffen. Die Zahl der Arbeitslosen müsse trotzdem nicht steigen.
Zeit als Verteilungsressource
Aiginger etwa ist ein großer Befürworter von Arbeitszeit-Umverteilung. Besonders für Besserverdiener wäre es eine Option, weniger zu arbeiten und anstelle von Lohnerhöhungen mehr Freizeit zu bekommen. Bisher sind solche Modelle in Kollektivverträgen selten, doch das könnte sich ändern. Aber damit ein solches System funktioniert, würde es nicht ausreichen, Gesetze umzuschreiben. Den Mentalitätswandel kann nicht die Politik steuern, das läge in der Verantwortung der Menschen. Eine Welt, in der das persönliche Wohlbefinden davon abhängt, wie hart man arbeitet, verträgt sich mit dem Konzept der Arbeitszeit-Neuverteilung nicht.
Hinzu kommt, dass eine neue Mentalität mit einem tiefsitzenden Dogma brechen müsste, wonach es den Kindern materiell immer besser gehen soll als ihren Eltern. Zuletzt hat diese Forderung Bundeskanzler Christian Kern bei seiner Antrittsrede erhoben.
Aiginger glaubt, dass viele junge Menschen – vom Mittelstand aufwärts – für eine Postwachstumsgesellschaft bereit sind. Ihr oberstes Ziel bestehe ohnehin nicht mehr in der Einkommensmaximierung. Bis der breite gesellschaftliche Wandel vollzogen werden könne, würde es aber noch zehn Jahre dauern, glaubt er. Vorher müssten "Rucksäcke" abgeworfen werden: Mit hoher Staatsschuld und krasser Vermögensungleichheit lasse sich keine Niedrigwachstumsphase beginnen.
Neue Ziele gesucht
Aber will die Gesellschaft die Transformation, wäre sie bereit, sich materiell zu bescheiden?
Das Streben nach Wachstum und Reichtümern hat in den vergangenen Jahrzehnten unzweifelhaft große menschliche Energien freigesetzt. Nimmt man den Leuten die alten Ziele weg, ohne sie durch neue zu ersetzen, wird das Frustration auslösen. Also bräuchte es neue Zielsetzungen. Ideen gibt es genug. So könnte die neue Ideologie darin bestehen, die globale Armut besser zu bekämpfen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und die globale Umweltzerstörung zu stoppen. Wahrscheinlich bräuchte es jemanden, der den Anstoß für die notwendigen Debatten gibt, damit wir als Gesellschaft erst einmal klären können, wohin wir überhaupt wollen.
Diese neue Welt wäre nicht innovationsfrei, ganz im Gegenteil. Aber der Erfindungsgeist müsste sich neu ausrichten. Im Start-up-Ranking der Zukunft wäre kein Platz für einen Online-Entsafter. (András Szigetvari, 28.5.2016)