Persönliche Assistenten begleiten Menschen mit Behinderung ins Kino oder zum Einkaufen. Sie machen das, wozu der Assistenznehmer aufgrund körperlicher Einschränkung nicht in der Lage ist.

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Stockholm/Wien – Anika weicht Tony nicht von der Seite. Sie sitzt neben ihm, wenn Tony isst. Sie schiebt seinen Rollstuhl, geht mit ihm spazieren und einkaufen. Beide sind fröhliche Menschen, davon kann man sich an jenem Nachmittag in Stockholm ein Bild machen, als sie Journalisten aus ihrem Alltag erzählen. Seit fünf Jahren sind Anika und Tony ein Team. Sie ist seine persönliche Assistentin, eine von fünf, die Tony rund um die Uhr betreuen.

"Ich borge ihm meine Arme und Beine", beschreibt Anika ihre Tätigkeit. Sie sei weder Pflegerin noch Ärztin, die Tony etwa Medikamente verabreiche. Vielmehr führe sie das aus, was Tony aufgrund seiner Behinderung – er hat eine zerebrale Lähmung – nicht kann. Wenn Tony fernsehen will, dreht sie ihm das Gerät auf, ohne ihm zu erklären, wie viele Stunden er schauen darf. Wenn Tony einmal Lust auf etwas Ungesundes zu essen hat, bereitet sie es zu, ohne ihn zu belehren, wie viele Kalorien er damit zu sich nimmt.

Persönliche Assistenz könnte man auch als Laienhilfe beschreiben. Entscheidend ist, dass die Menschen mit Behinderung die Auftraggeber sind. Sie sind keine Bittsteller, sondern Assistenznehmer und erhalten je nach Schweregrad der Behinderung eine Geldsumme, über die sie verfügen können. Sie entscheiden, wen sie anstellen – ob sie selbst Arbeitgeber sind oder eine Dienstleistungsfirma um Vermittlung bitten.

16.000 Schweden profitieren

In Schweden ist das Modell seit den 1990er-Jahren verbreitet und staatlich institutionalisiert. Behindertenvertreter schwören darauf. Etwa der Deutsche Adolf Ratzka, der maßgeblich an der Entwicklung des Ansatzes in Schweden beteiligt war: "So gut wie alles, das ich in meinem Leben machen konnte, habe ich meinen persönlichen Assistenten zu verdanken", zieht er in einem Aufsatz Resümee. Ohne persönliche Assistenz hätte er nicht studieren oder arbeiten können. Ohne persönliche Assistenz hätte er wahrscheinlich auch nicht geheiratet: "Wer möchte sich an einen lebenslangen Pflegefall binden?" Mittlerweile profitieren rund 16.000 Menschen in Schweden von persönlicher Assistenz.

Auch Österreich hat sich mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2008 dazu bekannt, das Modell nicht nur im Privatbereich, sondern auch am Arbeitsplatz (siehe Wissen unten) einzuführen. Tatsache ist, dass persönliche Assistenz hierzulande noch am Beginn steht. Die Regelungen in den Bundesländern variieren stark. In Wien, wo persönliche Assistenz seit 2008 eine Regelleistung ist, wird sie derzeit nur rund 260 Personen in Anspruch genommen. Das kostet die Stadt 11,8 Millionen Euro pro Jahr. Österreichweite Daten liegen nicht vor, Schätzungen zufolge handelt es sich um bis zu 2000 Menschen.

Unterschiedliche Voraussetzungen

Martin Ladstätter vom Verein Bizeps sieht mehrere Gründe. Zum einen seien die Regeln in manchen Bundesländern sehr strikt. Während persönliche Assistenz in Wien jene beantragen dürfen, die Pflegegeld der Stufen drei, vier, fünf, sechs und sieben erhalten, sind in Niederösterreich nur die höchsten Stufen – also fünf, sechs und sieben – anspruchsberechtigt. In Wien wiederum gibt es persönliche Assistenz in der Regel nur für körperlich behinderte, nicht aber sinnesbehinderte Personen oder Personen mit Lernschwierigkeiten. In Tirol gab es bis vor kurzem Sach- statt Geldleistungen.

Ladstätter plädiert für bundesweit einheitliche Regelungen: "Derzeit machen die Länder, was sie wollen." Das Potenzial an Leistungsbeziehern will er nicht an einer Zahl festmachen. Für ihn sind das all jene "behinderten Menschen, die im Alltag Unterstützung brauchen". Personen in der Verwaltung würden sich ob dieser nach oben offenen Beschreibung an den Kopf greifen. Ladstätter argumentiert: "Je mehr Leute ihr in das System nehmt, desto günstiger wird es" – denn jene, die nachkämen, hätten nicht so schwere Behinderungen wie bereits Anspruchsberechtigte.

"Geld kommt zurück"

Riitta-Leena Karlsson, in Stockholm Ombudsfrau für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, sagt im STANDARD-Gespräch, dass es auch in Schweden oft zu politischen Diskussionen wegen der Kosten für persönliche Assistenz (rund 290 Millionen Euro pro Jahr) komme: "Man muss auch immer in die Zukunft schauen. Wenn Menschen Zugang zur Gesellschaft haben, dann ist auch eher damit zu rechnen, dass sie Steuern zahlen. Das Geld kommt dann wieder zurück." Außerdem seien mit Einführung der persönlichen Assistenz die großen Heime aufgelöst worden – die auch sehr kostspielig waren. Adolf Ratzka sieht das Modell auch als wichtiges Arbeitsbeschaffungsinstrument: Die 16.000 Assistenzberechtigten beschäftigen 50.000 Assistenten auf Vollzeitbasis.

"Österreich kann von Schweden viel lernen", resümiert Ladstätter. Wenngleich es auch Kritikpunkte gibt. Dass die Sozialversicherung entscheidet, wer wie viel Geld erhält, findet er nicht gut. "Da befindet man sich gleich in der Krankenschiene – also dem medizinischen Modell von Behinderung. Behinderte Menschen sind nicht krank."

Diplom für Pulloveranziehen

Zur Kritik an Laienhelfern ohne Fachausbildung sagt er: "Ich brauche keinen diplomierten Pulloveranzieher." Sprich: Persönliche Assistenten erledigen seiner Meinung nach Aufgaben, für die sie angelernt werden können. Kompliziert wird es bei medizinischen Tätigkeiten, die Unausgebildete nicht durchführen dürfen. Aber auch dafür gebe es gesetzliche Regeln, denn individuelle Ausbildungen lassen sich nachholen.

Im Gespräch ist derzeit ein Inklusionsfonds ähnlich dem Pflegefonds, in den Bund und Länder einzahlen sollen, um Leistungen zu finanzieren – auch für persönliche Assistenz. Ladstätter appelliert an die Bundesländer, nicht nur finanzielle Mittel in die Hand zu nehmen, sondern auch Behindertenorganisationen einzubeziehen: "Wenn ich Menschen die volle Teilnahme am Leben geben möchte, dann kostet mich das Mühe, Geld und Verständnis." (Rosa Winkler-Hermaden, 30.5.2016)