Wien – Die gesellschaftliche Prägung beim Kunstgenuss lässt sich auch an den Blicken des Betrachters ablesen, zeigen österreichische Forscher. Fragt man einen Japaner nach dem Betrachten eines Gemäldes über den Hintergrund, so kann dieser darüber wahrscheinlich besser Auskunft geben als ein Österreicher. Umgekehrt konzentrieren sich Österreicher stärker auf Hauptmotive, so die Forscher um Raphael Rosenberg und Hanna Brinkmann, die sich in ihrer Dissertation mit dem Thema befasst, von der Universität Wien.

Die Kunsthistoriker und Psychologen gehen der Frage nach, inwieweit die soziokulturelle Prägung mit der Art des Betrachtens von Kunst zusammenhängt. Dass es einen solchen Einfluss gibt, wird schon länger diskutiert: So führte in den 1970er Jahren der britische Kunsthistoriker Michael Baxandall den Begriff des "Period Eye" ein. Damals zeigte er systematische Unterschiede in Kunstwerken, die in der Frührenaissance im Raum Florenz und in Süddeutschland und Österreich entstanden waren, und fand dafür gesellschaftliche Begründungen.

Weil die florentinischen Händler des 15. Jahrhunderts gut im Abschätzen der Volumina von damals nicht genormten Fässern sein mussten und in Geometrie geschult waren, gefielen ihnen vor allem geometrisch geprägte Gemälde. Weiter im Norden interessierten sich zur gleichen Zeit Kunstkäufer weniger für Geometrie, "aber man hatte einen besonderen Kult um schöne Schrift", so der Kunsthistoriker Rosenberg. Entsprechend orientiert waren dort die Kunstwerke, an denen beispielsweise schöne Faltenwurf-Darstellungen besonders geschätzt wurden.

Eye-Tracker

Bei der Analyse des Einflusses aktueller kulturspezifisch geprägter Betrachtungsgewohnheiten setzen die Wiener Forscher in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt auf eine spezielle Methode: Anhand der Daten zweier Infrarotkameras, die den Betrachter aus der Richtung des Gemäldes aufnehmen, kann mit einer eigens entwickelten Software genau berechnet werden, wie dessen Blicke über das Bild wandern.

Mit diesem "Eye-Tracker" analysierten Rosenberg und seine Kollegen das Verhalten von jeweils 50 Personen aus Japan und Österreich beim Betrachten verschiedenster Gemälde. Im Durchschnitt achteten die Österreicher mehr auf die im Bild gezeigten Hauptfiguren und -motive, während sich die Japaner etwas stärker auf deren Umfeld oder Hintergrund konzentrierten, also ihren Blick stärker über die Bilder wandern ließen, so der Forscher. Das könnte dadurch begründet sein, dass in der westlichen Welt die Orientierung am Individuum hoch gehalten wird, während asiatische Kulturen stärker von der Betonung des Kollektivs geprägt seien.

Betrachtungsstrategien

Auch bei der ersten Orientierung im Bild scheinen Österreicher und Japaner anders vorzugehen: In den ersten fünf Sekunden der Betrachtung sprang der Blick der Österreicher sehr rasch zwischen verschiedenen Punkten im Bild herum. Danach änderte sich die Betrachtungsstrategie deutlich. Rosenberg: "Es gibt eine gewisse Strategie der Ersterfassung des Bildes bei westlich geprägten Menschen, die bei Japanern so nicht zu beobachten ist."

Dass japanische Schriftzeichen von oben nach unten gelesen werden, hatte zur Überraschung der Forscher keinen Einfluss auf die Bildbetrachtungsstrategie der Japaner. Nur ein Gemälde von Caspar David Friedrich, das eine bergige Landschaft zeigt, animierte sie zum senkrechten Blicken. "Wir sind noch am Nachdenken, warum das der Fall ist", sagte Rosenberg. Als nächstes soll der Einfluss von Geschlechterbildern auf die visuelle Wahrnehmung analysiert werden. (APA, 30.5.2016)