Solche Ansichten sind schon einige Jahre her. Dieser Durchstich geschah etwa 2010.

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Hier ein Testzug im März des aktuellen Jahres.

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Ein Pfeifen. Der Ton wird immer schriller. Dann setzt ein Dröhnen ein. Wackelt der Berg? "Da rollt gerade ein Testzug durch eine der beiden Röhren", ruft Renzo Simoni und formt seine Hände zu einem Trichter. Er zeigt auf das Ende eines Zugangsstollens, der hier auf eine der beiden Röhren des Gotthard-Basistunnels stößt.

Trotz des fahlen Lichts im Gotthardmassiv ist dem drahtigen Renzo Simoni die Zufriedenheit, der Stolz anzusehen: Der Bauingenieur aus Graubünden und seine Truppe schreiben sich in diesen Tagen in die Geschichtsbücher der Schweiz ein, ja, sie können sich sogar eines Weltrekords rühmen: Simoni, Vorsitzender der Geschäftsleitung der Alptransit Gotthard AG, und seine Männer haben den längsten Eisenbahntunnel der Welt vollendet: den Gotthard-Basistunnel. Die zwei Röhren ziehen sich 57 Kilometer lang durch die Alpen. Vom Nordportal Erstfeld, Kanton Uri in der Zentralschweiz, bis zum Südportal Bodio im Kanton Tessin. Am 1. Juni wird das mehr als zwölf Milliarden Franken teure Jahrhundertwerk offiziell und mit großem Bahnhof eröffnet. Die Schweizer erwarten Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, den französischen Präsidenten François Hollande, Italiens Premier Matteo Renzi – und Österreichs neuen Kanzler Christian Kern.

"Europa wird durch unseren Tunnel näher aneinanderrücken", verspricht Alptransit-Chef Simoni. "Mehr als 20 Millionen Menschen allein im Einzugsgebiet zwischen Süddeutschland und Norditalien können von der neuen Verbindung profitieren." Das größte Bauprojekt, das die Schweiz jemals gesehen hat, erfüllt auch eine umwelt- und verkehrspolitische Mission: Die Eidgenossen wollen den Transport von Gütern und Menschen mehr und mehr von der Straße auf die Schiene verlagern. Die einzigartige Alpenlandschaft soll somit vor der Zerstörung bewahrt werden. Den Zeithorizont steckten die Eidgenossen auch schon ab: "Unser Bauwerk ist für mindestens 100 Jahre Nutzungsdauer ausgelegt", macht Simoni klar.

Berge versetzen

Der Alptransit-Chef zieht einen Plan aus der Tasche, legt ihn auf einen staubigen Tisch neben einer Felswand. Eine Taschenlampe erhellt die Skizze. Dann erklärt Simoni seine hochmoderne Konstruktion mit einem Enthusiasmus, den es braucht, um Berge zu versetzen: "Wir haben mehr als 28 Millionen Tonnen Material aus dem Gotthard herausgeholt, mit Bohrungen und Sprengungen." Das Gestein würde einen 7.100 Kilometer langen Güterzug füllen: von Zürich bis Chicago.

Der Clou des Basistunnels: "Die Strecke weist nur minimale Steigungen und Kurven auf", doziert Simoni. Die Folge: Mehr Güterzüge und mehr Personenzüge können sicherer und schneller durch das Innere der Alpen sausen. Die erste Flachbahn durch die Alpen macht Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 250 Stundenkilometern möglich. "Nach Abschluss der Arbeiten auf der gesamten Gotthard-Achse werden Reisende zwischen Zürich und Lugano rund 45 Minuten einsparen", wirbt Simoni. Die gesamte Gotthard-Achse umfasst auch den kleineren Ceneri-Basistunnel im Tessin: Er wird 2019 eröffnet.

Im historischen, 1882 fertiggestellten Gotthard-Scheiteltunnel kommen noch heute Schiebeloks zum Einsatz: Ohne sie könnte so mancher Güterzug die Bergstrecke nicht überwinden. Durch den neuen Basistunnel, vollgepackt mit bester Eisenbahntechnik, gleiten die bis zu 750 Meter langen Güterzüge mit 2.000 Tonnen Anhängerlast ohne Hilfe dahin.

Fachleute aus aller Welt

Damit alles reibungslos verläuft, heuerte die Alptransit tausende Fachkräfte aus aller Welt an – etwa den Deutschen Ralf Rüdiger. Der Diplomingenieur für Eisenbahnbau leitet die "Inbetriebsetzung" des Tunnels. Rüdiger ließ seine Familie in Bayreuth zurück und folgte dem Ruf aus den Alpen. "Die Projekte kommen nicht zu dir. Du musst zu ihnen", sagt der Sammler von Modelleisenbahnen. Neben einer guten Bezahlung lockten die Schweizer Tunnelbauer vor allem mit dem Renommee. "Schließlich kann nicht jeder von sich sagen, bei der ersten elektrischen Fahrt im Tunnel im längsten Tunnel der Welt dabei gewesen zu sein und dafür Mitverantwortung getragen zu haben", erklärt Rüdiger.

Den weitesten Weg in die Alpen mussten Minenarbeiter aus Südafrika zurücklegen. Sie bohrten bei Sedrun, im mittleren Teil des Tunnelsystems, zwei 800 Meter tiefe Schächte. "Die südafrikanischen Mineure kennen das Geschäft aus dem Gold- und Diamantabbau, bei uns in Europa bohrt man nicht so tiefe Löcher", erinnert sich Alptransit-Chef Simoni und streicht mit der Hand über den Spritzbeton an der Tunnelwand. Hinter der grauen Oberfläche spannen sich Stahlbögen.

Der Tunnel liegt bis zu 2.300 Meter unter der Oberfläche des Gotthards. Auch das ist Weltrekord – und verursacht Probleme. Weil die starken Spannungen die Röhren zu verformen drohten, tüftelten Ingenieure lange an einer Lösung: Sie entwarfen flexible Stahlbögen, diese schieben sich bei aufkommendem Druck zusammen und verhindern eine Katastrophe.

Sicherheit im Berg

Überhaupt ist die Sicherheit das oberste Gebot im Berg. Weil kein Schweizer Zug ein Tempo von 275 Stundenkilometer für Testfahrten schafft, mietete die Alptransit einen speziellen Testzug aus Deutschland: einen ICE-S.

"Der ICE ist bis unter die Decke voll mit Messinstrumenten", sagt Maurus Huwyler, Sprecher von Alptranist. Auf dem Prüfstand steht das Zusammenspiel von Fahrbahn, Fahrzeugen und Fahrleitung. Als Höhepunkt der Sicherheitschecks simulierten die Tunnelbauer einen Brand. Bei der Großübung saßen 800 Menschen in den Wagons, die rasche Evakuierung klappte bis auf einige Holprigkeiten nach Plan.

Was passiert genau bei einem Notfall? "Alle 325 Meter befinden sich Querschläge, sie verbinden die beiden parallelen Tunnelröhren", erklärt Huwyler. Er schreitet am Nordportal in Erstfeld einige Meter in den linken Tunnel hinein. "Diese Querschläge dienen im Notfall als rasch erreichbare Fluchtwege in die andere Röhre." Die Fluchtwege sind eingebettet in ein ausgeklügeltes Konzept: Es reicht von Notbelüftung über Lösch- und Rettungszügen bis hin zu Videokameras, die mutmaßliche Terroristen filmen sollen. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen auch während der Bauarbeiten musste Alptransit den Verlust von Mitarbeitern beklagen: Neun Männer ließen in den vergangenen Jahren im Gotthardmassiv ihr Leben. "Es waren tragische Unfälle, Unachtsamkeit, ein Mitarbeiter fiel von der Leiter", erzählt Simoni mit ernster Miene.

Hinter ihm ist im Kerzenlicht eine Statue der heiligen Barbara zu sehen, Schutzpatronin der Bergleute. Die Hinterbliebenen werden am letzten Tag im Mai an einem Tunneleingang der Toten gedenken – am 1. Juni werden die Megaröhren eröffnet. Und Mitte Dezember sollen die Züge dann regulär nach Fahrplan durch den Gotthard rauschen. (Jan Dirk Herbermann aus Erstfeld, 31.5.2016)