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Das Beatles-Album "Revolver" belegt Platz eins einer Metaliste aus Rankings. Danach folgen – nur unterbrochen von Nirvana – dreimal Beatles, dahinter erst Beach Boys, Pink Floyd, The Velvet Underground, Bob Dylans "Blonde On Blonde" und Radioheads "OK Computer".

Foto: Parlophone/Capitol/EMI, Capitol (2), dapd, (2) Harvest, Montage: Standard

Graz – Die Beatles, die Beach Boys, Nirvana, Pink Floyd, Bob Dylan. Große Namen wie diese tauchen auf so gut wie jeder Liste der "Besten Alben aller Zeiten" auf. Alles Männer aus dem angloamerikanischen Raum, weiß, mittlerweile stark gealtert oder nicht mehr am Leben. Das ist Popmusikgeschichte – sofern man danach geht, was die diversen Rankings der Musikmagazine und -plattformen vorgeben.

Ist das wirklich alles? Und was fehlt eigentlich auf diesen Hitlisten? Diese Fragen stellte sich der Musikwissenschafter und Soziologe André Doehring, als er sich während seines Studiums an der Uni Gießen in die Welt der Charts zu vertiefen begann. Das war kurz vor der Jahrtausendwende, als derartige "Best of all times"-Listen nur so herausgeschossen wurden.

Später hat Doehring aus 38 solcher Bestenlisten eine Metaliste erstellt – das Ergebnis war ernüchternd eintönig: vier Beatles-Alben in den Top Ten, klassische Rockbesetzung, die Songs fast durchwegs im Viervierteltakt und selten länger als vier Minuten. Fünf Alben waren bereits 1974 in der Liste der Top Ten des richtungsweisenden New Musical Express.

Die Wirkung der Musikkritiker

"Dieser Kanon ist über große Zeiträume hinweg sehr stabil. Ich habe festgestellt, dass Musikjournalisten dabei wichtige Taktgeber sind – obwohl sie sich selbst meist als machtlos ansehen", sagt Doehring. Seit knapp drei Monaten hat er die soeben erweiterte Professur für Jazz- und Popularmusikforschung an der Kunstuniversität Graz inne. Dort will er sich auch in Zukunft mit jenen Mechanismen beschäftigen, die bestimmen, welche Musik wir für die beste befinden und was wir hören.

In einer aktuellen Studie hat er die Wirkkraft der Musikkritiker genauer untersucht und sich dabei vor allem mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit das männlich dominierte Feld des Musikjournalismus damit zu tun hat, dass auch die Hitlisten immer wieder die mehr oder weniger gleiche Leier reproduzieren.

"Die Chefredakteure von deutschen Musikzeitschriften sind in der Regel männlich", berichtet Doehring. "Die Redakteursposten sind zu 80 bis 90 Prozent von Männern besetzt. Bei den freien Autoren finden wir zwischen acht und 17 Prozent Frauen, wobei Frauen vor allem unter den Anfängern sind und mit über 30 verschwinden." Die Leserschaft sei zu zwei Drittel bis drei Viertel männlich, woran sich auch der Anzeigenmarkt orientiere. So habe sich ein stabiles System etabliert, in dem die Musikindustrie und hauptsächlich weiße Männer in ihrem zweiten Lebensdrittel zusammenspielen.

Dazu kommt etwas, was Doehring angelehnt an Pierre Bourdieus Kunstsoziologie die "Ideologie des Künstlers" nennt. "Als Ende der 1960er-Jahre der professionelle Musikjournalismus aufkam, galt es nachzuweisen, dass auch Popmusik ihren Wert hat. Dabei wurde die aus der Romantik stammende Genie- und Werkästhetik auf die Popmusiker übertragen." Es gelte heute noch, dass Musiker, Interpreten und Sänger schnell zum Künstler befördert werden, als "authentisch", "innovativ", "genial" bezeichnet werden und ihre Alben als "Werk", als "Opus" gelten.

Geniekult

Nun würden Musikjournalisten in ihrem "männlichen Habitat" dazu neigen, auch sich selbst für Künstler zu halten und "das eigene, oft relativ karge Dasein als Journalist zu verklären", meint Doehring. "Außerdem herrscht dort der Glaube an angeblich urwüchsige Talente, die sich quasi von allein zu Autoren entwickeln. Das geht ebenfalls auf die Erfindung des 'männlichen Genies' Ende des 18. Jahrhunderts zurück – und schließt somit allein aus historischer Perspektive Frauen von künstlerischer kreativer Arbeit aus." Dass Männer im Musikjournalismus unter sich bleiben, werde auch kaum hinterfragt, kritisiert Doehring.

Aus diesem Biotop erwächst dann die inflationäre Zahl an Bestenlisten, die sich aus einem kaum beweglichen Kanon zusammensetzen. Wobei schon neue Bands hinzukommen – bloß die Kriterien, nach denen sie bewertet werden, bleiben gleich. "Radiohead sind heute quasi die neuen Beatles", sagt André Doehring und verweist auf eine Bestenliste der Internetplattform pitchfork.com, auf der Radiohead gleich drei Plätze der Top-Ten-Alben von 1996 bis 2011 einnehmen. Die "People's List" wurde nicht von Kritikern, sondern von rund 28.000 Nutzern zusammengestellt – davon 88 Prozent Männer.

Starre Muster

"Es wird nach wie vor alles an einmal gesetzten Maßstäben gemessen: Auf den Rankings landet werkorientierte Musik, die den Kritikern nah ist, also hauptsächlich von westlichen, männlichen Rockmusikern. Wichtig sind nach wie vor Kriterien wie Originalität, Autorschaft, also selbstgeschriebene Songs, und Echtheit – deswegen landen Kunstfiguren wie die Pet Shop Boys selten auf Bestenlisten", schildert Doehring. "Weiters zählt nur Musik mit 'richtigen' Instrumenten – daher kommt Dance- und Discomusik genauso wenig wie afrikanische Tanzmusik vor."

Doch ändern auch Onlineplattformen, Streamingdienste und die Digitalisierung der Musikbranche nichts an diesen starren Mustern? "Selbst wenn auf Spotify jeder seine eigene Playlist veröffentlichen kann – auf den Bestenlisten findet man wieder die gleichen Maßstäbe", sagt Doehring. In einer Studie aus dem Jahr 2011 hat er die Berufsrollen und Organisationsstrukturen von Journalisten dreier deutscher Musikzeitschriften verglichen: der deutschen Ausgabe des Rolling Stone, der bei Springer erscheint, des Gratismagazins Impro und der Independent-Zeitschrift Spex.

Dabei habe sich gezeigt, dass zwar die Darstellungsformen voneinander abweichen – etwa im Independent-Bereich auf sehr subjektiv angehauchten Gonzo-Journalismus gesetzt wird –, aber letztlich das "Genie" im Mittelpunkt der Berichterstattung steht. Es gibt zwar auch den totalen Verriss – den müsse man sich aber leisten können, sagt Doehring.

An der Kunstuni Graz will sich der Popmusikforscher nun der Aufgabe widmen, mithilfe von Workshops für Lehrkräfte das Bewusstsein von Schülern und Studierenden zu schärfen, damit sie eigene Kriterien dafür entwickeln können, was sie für gut befinden – und dass es auch herausragende Musik von Frauen und aus vielen anderen Musikrichtungen gibt. (Karin Krichmayr, 5.6.2016)