Wie erzieht man zu Freiheit – bei all dem Zwang etwa bei den Inhalten von Lehrplänen?

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Kant ruft uns zum Gebrauch der Vernunft auf, mit dem Ziel, uns aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Er war sich jedoch bereits bewusst, dass es einen Widerspruch zwischen der Aufgabe, zum freien Denken hinzuführen, also der Erziehung, und dem freien Denken selbst gibt. Seine Frage lautet: "Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?" Den Zwang, den Kant meint, finden wir zum Beispiel ganz grundsätzlich in der Schulpflicht oder in den Inhalten von Lehrplänen.

Wieso erziehen wir?

Wir erziehen, da wir unseren Wissens- und Erfahrungsvorsprung dazu nutzen möchten, um unseren Zöglingen "Schwung" mitzugeben, der sie später dazu befähigen soll, als mündige Bürgerinnen und Bürger mit Freiheit umzugehen, sie zu leben und Gerechtigkeit in der Gesellschaft immer wieder neu herzustellen. Oskar Negt beschreibt die Demokratie als die einzige Gesellschaftsform, die immer wieder gelernt werden muss.

Der Wert der Freiheit und auch seine Einschränkung, sind vergleichsweise einfach und nachvollziehbar auf persönlicher Ebene zu erklären. Wir stehen aber besonders bei der Vermittlung des Wertes der Gerechtigkeit vor einem Problem, denn er ist abstrakt und oft nicht eindeutig wirtschaftlich be- und verwertbar. Einerseits benötigen Erziehende daher Vertrauen in jene gesellschaftliche Werte, die sie vermitteln möchten, und auch ein gewisses Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit. Andererseits benötigen Zöglinge durch die Abstraktheit des Begriffs aber auch viel mehr Vertrauen in die Erziehende beziehungsweise den Erziehenden.

Die Grenzen der Vernunft

Es ist schwierig, zeitlich festzulegen, ab wann dieses Vertrauen zu bröckeln begann. Dazu beigetragen haben jedoch immer komplexer werdende gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Strukturen, die wir immer mehr durch Messen und Ökonomisieren verstehen, ordnen und erklären möchten. Oder wir greifen auf alte, uns vertraute Konzepte und Erklärungsmuster zurück, die aber vielleicht gar nicht mehr in unsere Zeit passen.

Wir verfangen uns dadurch immer mehr in Evidenz-Schleifen, die Wissenschaft folgt immer mehr wirtschaftlichen Paradigmen und wir vergessen, dass zum Beispiel auch der Wunsch, wahrgenommen zu werden, und wenn er noch so bescheiden ist, und andere Bedürfnisse eine wesentliche Rolle in unserer Gesellschaft spielen. Wir werden zu Arbeitsmaschinen und Wissenskonsumenten, die, wie es der Soziologe Harald Welzer beschreibt, kaum noch Zeit haben, um über Zusammenhänge nachzudenken. Andere denken für uns.

In guter Absicht möchten wir daher immer mehr die Freiheit des kritischen Denkens in der Erziehung fördern, damit zukünftige Generationen in der Lage seien, diesen gordischen Knoten zu lösen. Freies Denken allein kann das aber nicht leisten, und wir merken das auch. Das Resultat sind Frustration, das Gefühl der Hilflosigkeit und Zwang.

Sinn vermitteln

Zwang entsteht also, da wir das Vertrauen in dieses vage Gefühl, diese Aufgabe (siehe Negt) und Möglichkeit des Verbesserns einer Gesellschaft, verloren haben und unseren Zöglingen keinen über wirtschaftliche Aspekte hinausgehenden Sinn mehr vermitteln können. Wir haben vergessen, dass wir auch einen, wie es Robert Musil nennt, Möglichkeitssinn besitzen, der uns dazu befähigt hat, eine in vielen Ländern demokratische Welt zu schaffen. Eine Welt, die einer mittelalterlichen Leibeigenen oder einer Fabrikarbeiterin des 19. Jahrhunderts utopisch anmuten muss.

Wenn man daher, besonders bei der Erziehung zur Gerechtigkeit, oder noch grundlegender, bei der Erziehung zum erwähnten Verbessern, nicht in der Lage ist, eigene Emotionen, Wünsche und den Begriff des "Vertrauens" ins Spiel zu bringen, so wohnt dem Zwang der Zwang also bereits schon inne. Er ist nicht anders "erklärbar".

Den Ausgang finden

Die Fragen, wie viel Freiheit und wie viel Zwang beziehungsweise Gerechtigkeit die Erziehung und die Gesellschaft brauchen, beschäftigen uns, seit wir uns als soziales und kulturfähiges Lebewesen begreifen. Wir müssen also immer wieder aufs Neue versuchen, unseren gesellschaftlichen Werten, dem Vagen, Struktur zu geben, damit wir uns aus manchen alten oder neuen Abhängigkeiten befreien und wieder ein kleines Stück mehr persönliche Freiheit gewinnen können, welches wir vielleicht an anderer Stelle zuvor verloren hatten. Wir müssen dabei auch ab und zu ein wenig mutig sein, aber nicht naiv.

Unsere Neugierde und der vielleicht sogar schon zum wissenschaftlichen Fetisch gewordene Wunsch, Antworten auf uns noch unbekannte Abhängigkeiten und Zusammenhänge zu finden, schlagen aber mittlerweile oft in Zynismus, Abschottung, in das Gefühl der Hilflosigkeit oder aber auch in das Tradieren von Geschichtsmythen oder Vorurteilen um.

Gesellschaftliche Teilhabe

Teilweise sind dies menschliche Reaktionen, ohne die wir nicht lebensfähig wären, und alternative Antworten auf den Versuch, uns selbst durch unsere limitierten Sinne rational verstehen zu wollen. Und allein die Vorstellung, dass es jemals unser Wunsch sein könnte, uns selbst nur mehr als wissenschaftliche Objekte zu sehen, empfinde ich persönlich als mehr als menschenverachtend.

Wir stehen also nicht vor der Frage, wie wir die Freiheit beim Zwang kultivieren können. Sondern die entscheidende Frage lautet, wie es uns gelingen kann, in unseren Zöglingen einen Möglichkeitssinn, das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit, den Wunsch nach gesellschaftlicher Teilhabe und dieses vage, nicht ökonomisier- und messbare Vertrauen in den Gedanken des Verbesserns zu wecken und zu kultivieren.

Letztlich braucht es Vertrauen

Uns selbst gelingt das, indem wir zunächst einmal versuchen, unseren eigenen vagen Gefühlen, Wünschen und Gedanken, geduldig und Schritt für Schritt, eine gewisse Struktur zu geben und diese vorsichtig hinterfragen. Letztlich benötigen wir aber vor allem Vertrauen in diesen vagen Gedanken, diese vage Aufgabe. Erst durch das Vertrauen in einen ordnenden Gedanken, der sich nicht vermessen lässt, sind wir ja überhaupt auch erst in der Lage, Freiheit tatsächlich zu leben.

Als Erziehende oder Erziehender wird und muss uns mit Sicherheit nicht immer gelingen, diesen Gedanken und dieses Vertrauen zu vermitteln. Aber je öfter wir es vorsichtig versuchen und je mehr uns die gesellschaftliche Bedeutung der Aufgabe des Erziehens und die Wichtigkeit des Vertrauens in diesen Gedanken des Verbesserns, in dieses Gefühl, selbst bewusst ist, umso weniger Zwang werden wir in der Erziehung anwenden müssen.

Wir erzeugen über einen solchen Paradigmenwechsel Schritt für Schritt ein Gegenmoment zur Ökonomisierung unserer Gesellschaft und der uns verfügbaren Zeit. (Gregor Friedl, 7.6.2016)