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Der britische Premierminister David Cameron schwäche sich selbst durch "hysterische Angstmacherei", schreibt die "Financial Times".

Foto: REUTERS/Kerry Davies/Pool

Wenige Wochen vor der Abstimmung über den Verbleib in der EU nimmt das Unbehagen über den Ton der britischen Europa-Debatte zu. Als "sehr, sehr negativ" kennzeichnete Professor John Curtice, Politologe an der Glasgower Strathclyde-Universität, den Abstimmungskampf bei einem Seminar beim Thinktank Chatham House. Zwei Londoner Blätter widmeten dem Thema in der vergangenen Woche auch ihre Leitartikel. Der konservative Premierminister David Cameron schwäche sich selbst durch seine "hysterische Angstmacherei" vor den negativen Folgen eines EU-Austritts, ärgerte sich das Boulevardblatt Daily Mail. Hingegen nahm die Wirtschaftszeitung Financial Times (FT) das Lager der Austrittsbefürworter aufs Korn: Deren persönliche Angriffe auf alle, die anderer Meinung sind, bedeuten "einen dauerhaften Schaden für die demokratische Kultur" des Landes. Damit bestätigten die Zeitungen ihre Haltung in den gut drei Monaten, seit Cameron seinen Reformdeal aus Brüssel mitbrachte und den Termin der Volksabstimmung auf den 23. Juni festlegte.

Königin instrumentalisiert

Die FT gehört zum kleinen Kreis von Blättern wie Daily Mirror und – jedenfalls teilweise – The Guardian, die sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU einsetzen. Hingegen ist das Millionenblatt Daily Mail Anführerin der Austrittsbefürworter, zu der Boulevardblätter wie Daily Star und Daily Express ebenso gehören wie der ehrwürdige Daily Telegraph und das Intellektuellenmagazin Spectator.

Bedeckt halten sich einstweilen Times und Sunday Times, die britischen Flaggschiffe des US-australischen Medienzaren Rupert Murdoch. Der persönliche Einfluss des 85-Jährigen lässt sich besser an der redaktionellen Linie des Boulevardgiganten The Sun ablesen – und diese trommelt für den Austritt, auch mit fragwürdigen Mitteln. Im März versuchte das Millionenblatt, die 90-jährige Monarchin im EU-Referendumskampf zu instrumentalisieren. Gestützt war die Schlagzeile "Die Queen unterstützt Brexit" auf fünf Jahre zurückliegenden Smalltalk. Der Buckingham-Palast legte wütenden Protest ein, der Presserat erteilte eine Rüge.

Kritisch sehen auch akademische Beobachter das Vorgehen der Medien. Einer Untersuchung des Reuters-Instituts an der Universität Oxford zufolge argumentierten in den ersten beiden Monaten der Kampagne 45 Prozent der insgesamt 928 untersuchten Artikel für den Austritt, 27 Prozent für den Verbleib. Der Rest war ausgewogen. Zudem wird die Debatte von Männern dominiert, ergab eine Studie der Universität Loughborough. Die zehn am häufigsten in Artikeln zitierten Protagonisten waren allesamt Männer. Frauen stellten 16 Prozent der Interviewpartner im TV und lediglich neun Prozent in den Zeitungen. Die langjährige Labour-Vizevorsitzende Harriet Harman hat deshalb die Medienaufsichtsbehörde Ofcom angerufen.

"Brunftgeschrei" stößt ab

Labours Zählung zufolge lag das Geschlechterverhältnis der interviewten Politiker im einflussreichen BBC-Politikmagazin Today seit Beginn des Jahres bei 83:17, natürlich zugunsten der Männer. Kein Wunder, glaubt Harman, dass ihre Geschlechtsgenossinnen sich von der Debatte nicht angesprochen fühlten: Das "Brunftgeschrei der Platzhirsche", insbesondere der konservativen Kontrahenten, stoße viele ab.

Die BBC hat ihre ganz eigene Bewährungsprobe. Zwar sehen 57 Prozent der Briten den bekanntesten öffentlich-rechtlichen TV-Sender der Welt als "wichtigste", oft einzige zuverlässige Nachrichtenquelle. Doch der Rundfunkanstalt ist die Sorge um ihre Zukunft anzumerken, zumal Cameron ausgerechnet dem überzeugten EU-Feind John Whittingdale das Kulturressort und damit die Zuständigkeit für die BBC überantwortet hat. In der Brexit-Berichterstattung lasse der Sender stets beide Seiten gleich zu Wort kommen, anstatt eigene Urteile zu fällen, beklagt der Oxforder Zeitgeschichtsprofessor Timothy Garton Ash: "Die BBC agiert zu ängstlich." (Sebastian Borger aus London, 3.6.2016)