Kanada – das war lange Zeit der unauffällige US-Nachbar im Norden, mit den Mounties in ihren roten Uniformen, der betont höflichen Bevölkerung und den guten Eishockey-Spielern.

Kanada – das war das Land mit der schönen Landschaft, Neil Young, Bryan Adams und Celine Dion.

Kanada – das war aus der Ferne betrachtet vor allem immer eines: fad.

Seit knapp einem Jahr ist das anders. Genau genommen ist es umgekehrt, das Image des Landes steht Kopf. Kanada ist auf einmal aufregend, politischer Vorreiter, cool, liberal, ein Land, in das man sich – wenn nötig – vor Donald Trump flüchten kann.

Verantwortlich dafür ist Justin Trudeau, der derzeitige Premierminister des Landes. Der 44-Jährige ist der Darling internationaler Medien. Trudeau – so das Narrativ –, das ist der überzeugte Feminist, der ehemalige Schauspieler, der sportliche Boxer, der fesche Familienvater, der gebildete Humanist. Der junge Premier hat nach einem halben Jahr im Amt bereits eine beachtliche Fangemeinde im Netz. Keinem Politiker sind in so kurzer Zeit so viele virale Hits gelungen wie Trudeau.

Für seine Landsleute war Justin aber lange Zeit vor allem der Sohn seines Vaters: Pierre Trudeau dominierte seit 1968 mehr als 30 Jahre die kanadische Innenpolitik als liberaler Premierminister.

Wenige Jahre nach dessen Tod im Jahr 2000 stieg Justin in die Fußstapfen seines Vaters und bewarb sich um den Parlamentssitz in Papineau. Im kanadischen Unterhaus angekommen, stach der junge Politiker neben seinem berühmten Namen durch nichts heraus. Trudeau – das wurde später klar – kann vor allem auf der großen Bühne glänzen. Der Zeitpunkt dafür kam im Jahr 2013, als Trudeau den Vorsitz der liberalen Partei übernahm. Er wurde Chef eines politischen Trümmerhaufens: Die Partei hatte nur mehr 34 von 308 Sitzen im kanadischen Parlament und Schwierigkeiten, qualifizierten Parteinachwuchs zu finden. Niemand traute dem jungen Politiker zu, die Mehrheit im Parlament zu gewinnen.

Seine Kritiker sollten sich gewaltig täuschen. Der Spitzenkandidat der liberalen Partei war die lebende Antithese zur kanadischen Regierungspolitik der vorangegangenen zehn Jahre. Stephen Harper, konservativer Premier seit 2006, wurde international kaum wahrgenommen. Er war das, was man sich außerhalb Kanadas unter einem kanadischen Politiker gemeinhin vorstellte: langweilig. Hinzu kam sein Antagonismus gegenüber Medien, Presseauftritte waren für den kanadischen Premier Pflicht, keine Leidenschaft.

Das endete mit dem überraschenden Wahlsieg Trudeaus 2015. Seither glühen die Retweet- und Like-Buttons auf Twitter, Facebook und anderen sozialen Medien weltweit.

Den Startschuss dafür gab er gleich bei seinem Amtsantritt. Auf die Frage einer Reporterin, warum 50 Prozent seines Kabinetts aus Frauen bestehen, antwortete er: "Weil wir 2015 haben."

Trudeau ist Kanadas erster Premier, der erste Politiker im Land, der Augenblicke schafft, die weltweit "shareable" sind – Umarmungen, Gesten, Selfies, die sich leicht in sozialen Medien teilen lassen und dort auf große Resonanz stoßen. Das kanadische Magazin "Maclean" nennt ihn bereits "Prime Minister Bling".

Justin Trudau – das sympathische Naturtalent, dem die viralen Hits einfach so gelingen? An dieser These dürfen zumindest deutliche Zweifel angemeldet werden.

"Virale Hits kann man zwar nicht planen", sagt Josef Barth, der ehemalige Journalist & Gründer der Campaigning-Agentur Pick & Barth. "Aber man kann die Vorraussetzungen dafür schaffen." Barth identifiziert zwei Kernpunkte seiner Strategie: professionelles Owned Media und präzise Event-Planung.

"Die Frage ist, woher kommen die vielen viralen Video-Clips und tollen Foto-Schnappschüsse von Trudeau? Viele dürften von Mitarbeitern gemacht sein", sagt Barth. Professionelle Organisationen würden mittlerweile nicht nur auf gute Bilder aus klassischer Medienberichterstattung hoffen, sondern auf 'Owned Media', also das gezielte Steuern von Inhalten über einen hauseigenen Newsroom, setzen, erklärt Barth.

Trudeau habe wie viele Politiker eigene Fotografen aber auch – und das sei neu – wohl sein eigenes Videoteam, "das quasi 'Justin-Trudeau-TV' macht. Öffentliche Auftritte wirken spontaner als gestellte Studioszenen: Wenn man die mitfilmt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass unter dieser Menge an Material die eine gute Aufnahme, der eine gute Clip ist, der bei Veröffentlichung das Potenzial hat, viral zu werden."

Ist einmal sichergestellt, dass alles aufgezeichnet wird, komme es darauf, an den richtigen Event zu finden. Veranstaltungen werden dabei mehr als Mittel zum Zweck gesehen. "Trudeau nutzt Events ganz bewusst als Bühne: Nicht nur um mit seinem Auftritt die Teilnehmer vor Ort, sondern vor allem um die breite Öffentlichkeit zu erreichen. Derlei Auftritte werden professionell vorab geplant: Welche Botschaft soll mit welchem Zitat über die sozialen Medien verbreitet werden? Und welches Event könnte dafür als passende Kulisse dienen?"

Ein Lehrstück einer solchen Inszenierung ist sein Auftritt vor dem Perimeter Institute for Theoretical Physics in Ontario. Der rund einmütige Clip, in dem der Politiker einem Journalisten den Vorteil von Quantencomputern erklärt, ist ein weiterer viraler Hit aus dem Hause Trudeau.

Das Netz ist begeistert, die Trudeau-Fan-Community johlt auf: Trudeau versteht auch die Quantenmechanik. Rund 1,5 Millionen Menschen haben das Video nur auf dem Youtube-Kanal des kanadischen Senders CBC gesehen. Auf anderen Kanälen erreichte Trudeau viele Millionen mehr.

"Er hat den Satz zurechtgelegt gehabt", glaubt Barth. Für die Theorie spricht auch, dass die Aussage die Antwort auf eine Frage ist, die nie gestellt wurde.

"Ich wollte sie ursprünglich über Quantencomputer fragen [Gelächter im Publikum], aber…. Wann glauben sie, dass Kanadas Militäreinsatz gegen IS beginnt, und was machen wir in der Zwischenzeit?", lautete eigentlich die Frage des Reporters. Schon am Beginn der 20-minütigen Pressekonferenz hat Trudeau die Reporter wissen lassen, dass er gern über Quantencomputer sprechen würde. "Das Statement zum Quantencomputer hätte man immer bringen können. Die Pointe funktioniert aber besser, wenn man gefragt wird – und man sie dann als Antwort aus dem Ärmel schüttelt", sagt Barth. Kurz: Gute Eventplanung und Owned Media als Grundstein für virale Hits.

Snippets

Für Judith Denkmayr, Leiterin der Corporate Communications bei der Agentur Virtue Austria (Vice CEE), braucht es noch etwas ganz anderes: Performance.

"Er ist eigentlich jemand, der sehr punktgenau performt." Trudeau setzte viele seiner Auftritte mimisch und rhetorisch so perfekt um, dass daraus ein 'Snippet' – ein wenige Sekunden dauernder Ausschnitt – werden kann, der perfekt in sozialen Medien verwertbar ist, meint die Social-Media-Expertin.

Dieses Talent, zum richtigen Moment genau das Richtige zu sagen, habe der Exschauspieler schon früh bewiesen: "Wenn man sich die Rede am Begräbnis seines Vaters ansieht, dann ist es faszinierend, wie er selbst in dieser Situation, wo er in tiefer Trauer ist, eine Rede performt."

Großes Thema – auch in der Politik – seien dabei zurzeit animierte Graphics Interchange Format (kurz: GIF). GIFs sind die kleinstmögliche Bewegbildeinheit, die sich – auch wegen Smartphones – nach wie vor großer Beliebtheit im Netz erfreut. "Man arbeitet derzeit vor allem in den USA mit solchen GIFs", sagt Denkmayr. Bei amerikanischen Politikberatern gehe es unter anderem darum, wie man so perfekte Augenblicke für Snippets kreiert. "Kurze Sager, kurze Zitate, kurze Peinlichkeiten" – und GIFs seien dafür das ideale Transportmittel. Genau das könne Trudeau perfekt.

Es sei aber ein Trugschluss zu glauben, es sei der Verbreitungsweg – Facebook, Twitter, Snapchat –, der den Erfolg Trudeaus ausmacht, meint Denkmayr: "Trudeaus Social-Media-Accounts sind in Ordnung, aber nicht überragend gut gemacht. Die sind nicht das Rezept." Das Rezept sei das, was er mache. "Er bricht mit vielem und überrascht. Alles was überraschend ist, löst Emotionen aus, und im Social Web geht es immer um Emotionen."

Rufe man die Emotionen einmal erfolgreich ab, gebe es kein Halten mehr. Den Beweis dafür trat Justin Trudeau mit zwei Pandabären Anfang März im Zoo von Toronto an.

Im Prä-Social-Web-Zeitalter, bevor seine Fans ein neues Foto ihres Idols frenetisch auf Facebook und Co teilen konnten, wäre ein Pandafoto mit einem kanadischen Premier höchstens auf der Titelseite einer kanadischen Zeitung gelandet – eventuell mit einem hämischen Kommentar versehen. "Jetzt gelangt es ungefiltert zum Publikum. Und wenn sich das Publikum so stark dafür interessiert, bekommt es mehr davon, weil auch Medien immer stärker auf Zugriffszahlen schauen", sagt Denkmayr. Das Social Web fungiert als Echokammer gelungener Inszenierungen. "Früher waren die Journalisten die Gatekeeper, jetzt sind die Zugriffszahlen die Gatekeeper."

Deswegen sei es auch so wichtig, eigene Inhalte zu produzieren, betont Kampagnenexperte Barth: "Wenn ein Pressefotograf (z.B. einer Tageszeitung, Anm.) ein gutes Foto macht, kann man es nicht für eigene Zwecke auf Social Media nutzen ohne das Urheberrecht des Fotografen zu verletzen." Viele der viralen Fotohits Trudeaus stammen daher von seinem eigenen Fotografen oder Mitarbeitern des Premiers: "Wenn er ein Baby auf einer Hand balanciert, steht interessanter Weise immer wieder ein Fotograf an der richtigen Stelle. Und meist ist das wohl sein eigener."

Die Strategie ist aber nicht risikolos, meint Social-Media-Expertin Denkmayr: "Die Gefahr ist, dass die Leute irgendwann genug davon haben. Wenn er die Ideen, die er propagiert, nicht umsetzt, kann es schnell passieren, dass er entzaubert wird." Außerdem habe die hohe Erwartungshaltung eine umgekehrte Mechanik zur Folge. "Man sucht immer nach dem Widerspruch. Man will immer hinter die Kulisse schauen. Bei jemanden, der sich besonders korrekt gibt oder liberal oder als Feminist, schaut die Öffentlichkeit doppelt genau hin, ob er auch so ist."

So ist auch die Aufregung um "Elbow-Gate" erklärbar. Trudeau rempelte eine konservative Abgeordnete im Parlament an. Der wenige Sekunden dauernde Zwischenfall wurde zigtausende Male online angeschaut. Trudeau musste sich entschuldigen. "Man wartet als Gegner ab, und sobald sich die ersten Schwächen zeigen, haut man dafür doppelt so stark hin", sagt Denkmayr. Noch haben Trudeau die Angriffe der Konservativen, die auch den Onlinehype um den Premier selbst als Angriffsziel nehmen, nicht geschadet. Seit dem Wahlsieg konnten die Liberalen in Umfragen sogar noch Prozentpunkte hinzugewinnen.

Balancierende Babys, Pandafotos, "Elbow-Gate" – Denkmayr glaubt, dass durch neue Formen die Inhalte der Politiker banaler werden. "Ich glaube, dass man mit einem wirklich großen, komplexen Thema kaum durchkommt. Politiker müssen darauf achten, dass sie die Themen so verpacken, dass quasi jeder darauf anspringt", sagt Denkmayr.

Trotzdem seien es letztlich die Ideen, die überzeugen. "Man kann den Erfolg Trudeaus am besten am Begriff des Memes zu erklären versuchen", sagt sie. Memes sind Ideen, die online so erfolgreich sind, dass sie extrem oft reproduziert und kopiert werden. "Das Meme repliziert sich – wie ein Gen –, wenn es sehr erfolgreich ist. Das heißt, es steckt eine Idee dahinter, und die Idee trifft auf eine Resonanzfähigkeit."

Als in Oberösterreich eine Landesregierung ohne ein einziges weibliches Regierungsmitglied angelobt worden sei, präsentierte Trudeau ein Kabinett mit 50 Prozent Frauenanteil. "Trudeau sprach ein Bedürfnis der Menschen an und kommunizierte es unprätentiös mit dem Satz 'Because it's 2015'. Das wurde von einer weltweiten Zielgruppe aufgenommen wie ein Bissen Brot von einem Hungrigen."

Dennoch glaubt Denkmayr nicht, dass künftig nur noch Politiker vom Zuschnitt Justin Trudeaus in der Politik präsent sein werden: "Man muss eine Stärke haben. Wenn man einen Bereich hat, in dem man unschlagbar ist, dann braucht man auf Social Media überhaupt nichts mehr machen, weil der Inhalt ohnehin von der Anhängerschaft in die Welt getragen wird". (Stefan Binder, 13.6.2016)