"Graue Wölfe" vor dem deutschen Konsulat in Istanbul.

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Das Friedensmonument von Kars vor seiner Zerstörung auf Befehl Erdogans.

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Die türkischen Reaktionen auf die Resolution über den Armenier-Genozid im Deutschen Bundestag entsprechen jener eines Kleinkindes, das aus Trotz die Luft anhält. Sie wären eigentlich ob ihrer bizarren Auswüchse zum Lachen. Doch verknüpft damit sind weitaus dramatischere Konsequenzen: Erdogan hetzt schon seit Jahren gegen deutschtürkische Politiker wie Grünen-Chef Cem Özdemir, die die offiziellen Positionen Ankaras nicht teilen. Nun fordert er gar Bluttests, um ihr "Türkentum" zu überprüfen. Und der türkische Präsident droht Deutschland unterschwellig mit den Millionen türkischstämmigen Einwohnern in seinen Grenzen – die mehrheitlich Anhänger der Erdogan-Partei AKP sind.

Die Saat des Hasses geht auf: Özdemir, der bei der Bundestagsdebatte eindringlich dargelegt hat, warum die Massaker an den Armeniern vor 101 Jahren als Völkermord einzustufen sind, sieht sich mit massiven Morddrohungen türkischer Nationalisten konfrontiert. Diese Drohungen erfordern eine scharfe Reaktion Berlins: Ankara muss in die Verantwortung genommen werden, keine Gewalt zu schüren. Dazu wäre aber eine Regierung nötig, die diesen Namen auch verdient und Handlungsfähigkeit beweist. Die Abwesenheit von Angela Merkel und Sigmar Gabriel bei der Armenien-Resolution im Bundestag zeigt, dass die Regierungsspitze ihre Verantwortung nicht ernst nimmt.

Mehr noch: Erdogans Aussagen zufolge hätte ihm die Bundeskanzlerin versprochen, die Abstimmung über die Resolution zu verhindern. Einige Tage vor der Bundestagsdebatte hätte sie dies in einem Gespräch zugesagt. Falls davon auch nur ein Bruchteil stimmen sollte, wäre das mit dem Amt als Bundeskanzlerin wohl nicht vereinbar. Aus welcher Motivation heraus bespricht eine deutsche Regierungschefin mit einem ausländischen Staatschef vorab eine Debatte im deutschen Parlament?

Dass Erdogan von Deutschland nun "Rechenschaft" über den Holocaust verlangt, ist jedoch ein aufgelegter Elfmeter. Kaum ein Staat hat das dunkelste Kapitel seiner Geschichte so gut aufgearbeitet wie Deutschland. Hunderte Holocaust-Gedenkstätten finden sich im ganzen Land, Berlin könnte den türkischen Machthaber einladen, diese im Zuge einer Rundreise zu besuchen, um sich zu informieren, wie ein offener Umgang mit der eigenen historischen Verantwortung aussehen kann. In der Türkei existiert stattdessen eine "Gedenkstätte", die von einem angeblichen Völkermord der Armenier an den Türken berichtet. Das einzige Monument in der Türkei, das die Massaker des Jahres 1915 thematisierte und Frieden und Brüderlichkeit propagierte, stand in der osttürkischen Stadt Kars und wurde 2011 wenige Jahre nach seiner Errichtung durch den Künstler Mehmet Aksoy auf Befehl Erdogans wieder abgerissen.

Unter all diesen Aspekten ist es geradezu absurd, Zugeständnisse an Ankara wie eine Visafreiheit für seine Bürger oder gar Schritte in Richtung einer EU-Mitgliedschaft auch nur anzudenken. Europa muss in seinem Verhältnis zu der Türkei vielmehr die Notbremse ziehen. Erdogan muss klargemacht werden, dass sich die EU nicht erpressen lässt.

Merkels Flüchtlingspolitik gegenüber der Türkei ist spätestens seit der Armenier-Resolution in Frage gestellt. Von türkischer Seite aus war eine Umsetzung des Deals offensichtlich ohnehin niemals ernsthaft vorgesehen, er diente Ankara von vorneherein nur als willkommenes Mittel zur Erpressung Deutschlands und der EU. Vielleicht setzt sich nun in Europa die Erkenntnis durch, dass man für die Lösung der Flüchtlingsproblematik andere Partner braucht als den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Eine kolportierte Suspendierung des Flüchtlingsrücknahme-Abkommens von 2014 durch Ankara würde neue Lösungswege erforderlich machen.

Die Regierungen sollten gegen die mit den IS-Terroristen vernetzten ultranationalistischen rechtsextremen türkischen "Grauen Wölfe" europaweit Verbotsverfahren einleiten und die Verwendung ihrer Symbole einschließlich des "Wolfgrußes" unter Strafe stellen.

Und die europäischen Regierungen täten gut daran, sich nicht nur um den historischen Völkermord an den Armeniern zu kümmern, sondern konkrete Initiativen gegen das Vorgehen der Türkei gegen ihre kurdische Minderheit zu starten. (Michael Vosatka, 6.6.2016)