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Eine vernetzte Welt, in der alle in einer riesigen Sharing Economy zusammenarbeiten, schwebt dem Physiker und Soziologen Dirk Helbing vor: "Kooperation ist Europas einzige Chance, eine wettbewerbsfähige digitale Ökonomie aufzubauen."

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"Genauso wie die Biodiversität geschützt werden muss, müssen wir auch die Soziodiversität schützen", sagt Dirk Helbing. "Denn Diversität ist die Voraussetzung für Innovation und kollektive Intelligenz."

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STANDARD: Sie warnen vor dem Ende der Demokratie, davor, dass die datengetriebene Gesellschaft in eine Katastrophe münden könne. Das klingt alles sehr fatalistisch. Bringen uns die neuen technologischen Möglichkeiten nicht Chancen auf ein besseres Leben, wie uns immer wieder versprochen wird?

Helbing: Man muss sowohl die Chancen als auch die Risiken sehen. Man darf die Risiken nicht kleinreden und muss sich aktiv mit ihnen auseinandersetzen, um sie zu minimieren und die Chancen zu maximieren. Das braucht eine öffentliche Diskussion. Es muss uns klar sein, dass die Situation historisch gesehen kritisch ist.

STANDARD: Inwiefern?

Helbing: Wir stehen am Übergang zur digitalen Gesellschaft. Ähnliche Übergänge in der Vergangenheit – von der Agrar- zur Industriegesellschaft und dann zur Servicegesellschaft – liefen nicht glatt ab. Da gab es Finanz- und Wirtschaftskrisen, Revolutionen und Kriege. Ersteres haben wir offensichtlich schon, und auch soziale und politische Destabilisierungen zeichnen sich in verschiedenen Ländern ab. Das Charakteristikum dieser Übergänge ist, dass die Erfolgsprinzipien aus der Vergangenheit an das Ende ihrer Wirksamkeit kommen. Heute sind das Prinzipien wie Regulierung und Optimierung. Wir sind in einem Zeitalter von Überregulierung. Man kommt nicht mehr hinterher, bei dem Tempo, das die digitale Revolution vorlegt. Wenn wir so weitermachen wie bisher, enden wir automatisch im Chaos.

STANDARD:Wie kann man die digitale Revolution bändigen?

Helbing: Wir müssen uns die Frage stellen, in welcher Art von Gesellschaft wir leben möchten. Eine datenbasierte wird es auf jeden Fall sein. Es kann der Feudalismus 2.0 kommen, wo nur einige wenige über die Daten verfügen, oder der Kommunismus 2.0, wo der Staat alle bemuttert. Es kann der Faschismus 2.0 sein – oder Demokratie 2.0 und Kapitalismus 2.0. Von oben gesteuerte Gesellschaftsmodelle scheinen schon auf dem Weg zu sein, haben aber das Problem, dass sie dazu neigen, die Diversität zu reduzieren. Genauso wie die Biodiversität geschützt werden muss, müssen wir auch die Soziodiversität schützen. Denn Diversität ist die Voraussetzung für Innovation, kollektive Intelligenz und gesellschaftliche Resilienz, also die Fähigkeit, mit unerwarteten Entwicklungen zurechtzukommen, die der Klimawandel, demografische und technologische Veränderungen mit sich bringen. Wenn wir Pluralismus als Grundprinzip haben, ist die Chance am größten, dass es irgendwo eine Lösung gibt. Innovation passiert meistens bottom-up. Das ist auch der Grund, warum bisher Demokratie und Kapitalismus die leistungsfähigsten Systeme waren. Wir müssen sie jetzt digital neu erfinden.

STANDARD: Das Internet ermöglicht schon jetzt partizipative Strukturen, siehe Shared Economy oder Crowdsourcing. Warum müssen sich Demokratie und Kapitalismus neu erfinden?

Helbing: Es gibt in der vernetzten Ökonomie und Gesellschaft eine natürliche Entwicklung in Richtung neuer Prinzipien – Kokreation, Koevolution und kollektive Intelligenz. Der Staat hat da nicht viel Dünger hingestreut. Man dachte, es ist damit getan, dass man eine große IT-Infrastruktur schafft, die alle möglichen Daten sammelt, und optimale Lösungen ermittelt, die dann technokratisch durchzusetzen sind. Diese Idee des wohlwollenden Diktators scheint sich vielerorts verbreitet zu haben, ganz nach dem Motto: Wenn man nur genug Daten hat, enthüllt sich die Wahrheit von selbst. Diese Big-Data-Fantasie hat keine wissenschaftliche Basis.

STANDARD: Wächst uns Big Data über den Kopf?

Helbing: Ich glaube, dass wir in eine Sackgasse geraten sind in dieser ersten Phase der Digitalisierung, die stark von Big Data und künstlicher Intelligenz gekennzeichnet war. Man sieht aber jetzt zunehmend die Probleme. Dieses Denken hat nicht zu dem allgemeinen Zuwachs an Wohlstand geführt, den man sich von der digitalen Revolution erwartet hatte. Ich habe aber das Gefühl, dass ein Umdenken eingesetzt hat. Man beginnt jetzt zu erkennen, dass es eine Art riesige Sharing Economy braucht, wo sich jeder einklinken kann mit seinen Services und Ideen. Wir müssen alle an Bord nehmen bei der Digitalisierung, wenn es ein Erfolg werden soll. Wenn nicht jeder mitmachen kann, bricht die Gesellschaft auseinander, und dann haben wir ein riesiges Problem.

STANDARD: Wie soll diese digitale Mitmachgesellschaft funktionieren?

Helbing: Wir müssen uns fragen, wie wir uns unabhängiger machen können von den großen Playern wie Google, die unsere Daten sammeln und uns sozusagen ihre Weltsicht aufdrücken. In jedem Smartphone haben wir Sensoren, mit denen wir Lärm, Standort, Helligkeit, Geschwindigkeit und vieles mehr messen und Daten über unsere Umwelt erzeugen können. Solche Daten können wir anonymisiert teilen – und eine Art Wikipedia für Echtzeitdaten aufbauen. Wir arbeiten an der ETH Zürich gemeinsam mit internationalen Partnern an dem Projekt Nervousnet, einer Plattform, die es jedem erlaubt, eigene Apps, Leistungen und Services zu entwickeln oder auch Spiele, die solche Sensordaten verwenden. Die Idee ist es, ein offenes, partizipatives Informationssystem zu schaffen, in dem die Leute ihrer Kreativität freien Lauf lassen können.

STANDARD: Inwieweit betrifft das das kapitalistische System?

Helbing: Unser Vorschlag schließt ein zusätzliches Finanzsystem ein, in dem alle Geld verdienen können. Durch das Produzieren und Teilen von Daten würde man verschiedene Arten von Geld schöpfen, je nachdem, um welche Daten es geht. Das würde völlig neue Märkte ermöglichen.

STANDARD: Wie soll sich das Nervousnet finanzieren?

Helbing: Es geht um das Kreieren von neuem Geld, ähnlich wie bei Bitcoin. Das, was heute von der EZB von oben in das System hineingepumpt wird und weder bei Unternehmen noch bei uns ankommt, das würde in Zukunft von unten, von uns, erzeugt, sodass es an jedem vorbeifließt und jedem nutzt. Das ist einfach ein neuer Ansatz, mit dem man Geld schöpft. Es muss klar sein, dass sich mit der Digitalisierung jede Branche ändern wird, die Verwaltung, die Politik, die Forschung, insofern ist es klar, dass sich die gesamte Wirtschaft und auch das Geldsystem ändern werden.

STANDARD: Wer soll das Netzwerk aufbauen?

Helbing: Wir sind dabei, an den ersten Grundlagen dieser Plattform zu basteln, und wollen möglichst viele Menschen mobilisieren, mitzumachen. Natürlich sind auch Unternehmen eingeladen. Um ein dezentrales Bottom-up-System aufzubauen, braucht es aber auch staatliche Rahmenbedingungen. Kooperation ist Europas einzige Chance, eine wettbewerbsfähige digitale Ökonomie aufzubauen. Wir sollten jetzt einen Kapitalismus 2.0 erschaffen, der kompatibel ist mit Demokratie, mit Liberalismus, sozialen und ökologischen Interessen, und zwar auf der Basis von Marktmechanismen, also nicht durch Regulation, sondern auf der Basis von Selbstorganisation.

STANDARD: Das klingt alles nach einer allzu schönen Vision ...

Helbing: ... und das ist es, was wir jetzt brauchen. Weil es uns an Zukunftsvisionen, an Aufbruchstimmung mangelt, haben diejenigen, die zu den Gesellschaftsmodellen der Vergangenheit zurückkehren wollen, so viel Zulauf. Um sich die Zukunft vorstellen zu können, muss man digital denken lernen. Die digitale Welt ist auf Ideen aufgebaut. Jene Länder, die verstehen, was man mit Information alles machen kann, welche Entfaltungskraft darin liegt, anstatt sie zu beschränken, zu kontrollieren und in irgendwelche Schemata zu zwängen, werden am Ende führend sein. (Karin Krichmayr, 8.6.2016)