Labour-Chef Jeremy Corbyn macht sich rar bei der Pro-EU-Kampagne seiner Parteifreunde. Hier verlässt er gerade sein Haus im Wahlkreis Islington.

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Freundlich, aber bestimmt klopft Scarlett MccGwire an die Tür. Lange Sekunden geschieht gar nichts. Schon wendet sich die Frau im knallroten Jackett wieder zum Gehen, da wird doch noch geöffnet. Und plötzlich stehen sich an diesem strahlenden Juni-Mittag im Nordlondoner Bezirk Islington zwei Welten gegenüber: Hier das hochpolitische Labour-Mitglied, das für die EU werben will; dort eine Einwanderin, die erkennbar wenig Englisch versteht.

MccGwire versucht es mit einigen Sätzen zu Europa. Das zeigt keine Wirkung. Plötzlich lichtet sich die Wolke der Verständnislosigkeit im Gesicht der Angesprochenen. "Jeremy", sagt die türkisch-stämmige Frau freundlich, als sie MccGwires Labour-Aufkleber entdeckt, und beteuert: "Wählen Jeremy".

Immerhin: Der örtliche Abgeordnete ist Labours Parteichef Jeremy Corbyn persönlich. Bei der jüngsten Unterhauswahl wurde er mit einem Vorsprung von mehr als 21.000 Stimmen wiedergewählt. Vom Europa-Referendum, um das es diesmal geht, hat die Labour-Wählerin hingegen keine Kenntnis. "Jeremy will, dass Sie für 'Bleiben' stimmen", erklärt die Besucherin in der roten Jacke und deutet auf Corbyns Foto. "Jeremy", bekräftigt die Angesprochene, nimmt das Flugblatt entgegen und zieht sich wieder in ihre Wohnung zurück.

Wahlkampf ohne Chef

Ob sie am 23. Juni wirklich zur Wahlurne gehen wird? Das bleibt mindestens so unklar wie die wirklichen Ansichten des Labour-Chefs. Offiziell hat sich der 67-jährige linke Veteran Großbritanniens Verbleib im Brüsseler Club auf die Fahne geschrieben. Begeistert wirkt er dabei nicht. Seine Aktivisten – immerhin mehr als ein Dutzend sind an diesem Tag zusammengekommen – müssen ohne den Chef treppauf, treppab die Mietskasernen an der Dalmeny Avenue abklappern. Die meisten bleiben dem ausländischen Journalisten gegenüber diplomatisch, aber einer sagt verdrossen: "Jeremy ist furchtbar. Wenn er so weitermacht, verlieren wir wegen ihm das Referendum."

Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Zwar sorgen im Brexit-Streit die Angehörigen der konservativen Regierungspartei unter Premier David Cameron für die meisten Schlagzeilen, brutal prügeln sie verbal aufeinander ein. Doch von Anfang an haben Politikwissenschaftler darauf hingewiesen, es werde am Ende vor allem auf die Mobilisierung der Nicht-Torywähler ankommen. "Die Anhänger der Opposition sind entscheidend", weiß die dänische Politologin Sara Hobolt von der London School of Economics (LSE) aus ihrer Forschung über Referendumskampagnen auf dem Kontinent. Cameron oder sein Brexit-Gegenspieler Boris Johnson, schön und gut. Wichtiger sei Labours Parteichef: "Corbyn kann das Referendum für die EU gewinnen oder auch verlieren."

Tiefe Skepsis

Wenn das stimmt, ist es um das Lager der EU-Befürworter schlecht bestellt. Corbyn klingt immer ein wenig beleidigt, wenn es um Europa geht, als wolle er mit dem Thema möglichst wenig zu tun haben. Der überzeugte Sozialist hegt mit seinen Freunden vom linken Labour-Flügel tiefe Skepsis gegenüber der EU. Er stimmte im Europareferendum 1975 gegen die damalige EWG, lehnte den Maastricht-Vertrag ab, der den Grundstein zum Euro legte, und sprach noch im vergangenen Sommer wohlwollend über den Brexit.

Nach seiner sensationellen Wahl zum Vorsitzenden musste Corbyn, von den sozialdemokratischen Außenpolitikern vor ein Ultimatum gestellt, die EU-Kröte schlucken: Seine Partei werde geschlossen für den Verbleib im Club kämpfen. Zu spüren ist von Kampf allerdings wenig. Nur widerwillig, so heißt es in Corbyns Umfeld, habe sich der Vorsitzende in der heißen Phase des Abstimmungskampfes zu einer Reihe von Reden verpflichten lassen.

Internen Umfragen zufolge wissen rund die Hälfte der zuletzt 9,3 Millionen Labour-Wähler gar nicht, dass die Partei für den EU-Verbleib trommelt. Auch ein Brief der sechs noch lebenden Vorgänger Corbyns im Amt des Parteichefs wird daran wenig ändern. Das Sextett, darunter die früheren Premiers Tony Blair und Gordon Brown, betont darin: Labours Werte würden von der britischen Mitgliedschaft in der EU gestärkt. Selbst labournahen Medien war die Intervention kaum eine Erwähnung wert.

"Kampf zwischen Torys"

Die Aktivisten in Islington ziehen am Ende eine zwiespältige Bilanz. Der Ortsvereinsvorsitzende Lindsay Thomas erzählt von seinem Gespräch mit einem Rentner. Beim Referendum 1975 habe dieser noch für den Austritt gestimmt, diesmal sei er für den Verbleib. Nur zur Abstimmung gehen wolle er nicht: "Das ist ein Kampf zwischen den Tories. Damit habe ich nichts zu tun." (7.6.2016)