Um Proteste während der EM zu verhindern, machte Frankreichs Präsident François Hollande mehr und mehr Zugeständnisse.

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Der Abfall stapelt sich wegen des Streiks der Müllabfuhr auch vor dem berühmten Pariser Café de Flore im Quartier Saint-Germain-des-Prés.

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"Frankreich hat die Europameisterschaft gewonnen" titelt "Le Canard enchaîné" bereits. Das Satireblatt meint allerdings nicht die Fußball-EM, sondern einen weniger glorreichen Rekord: Nach Angaben der EU-Kommission kommt Frankreich seit neuestem auf die höchste Steuer- und Abgabenquote Europas, nämlich 45,7 Prozent, und überholt damit den bisherigen Spitzenreiter Dänemark. Die französische Regierung hätte die Meldung gerne verdrängt, schließlich hat sie schon genug Ärger. Die seit Jänner dauernde Fronde gegen die Reform des Arbeitsrechts will nicht abreißen – und überschattet nun auch den Beginn des Fußballturniers, in das Präsident François Hollande so große Hoffnungen gesetzt hatte: Die EURO 2016 sollte die Konjunktur und damit seine persönlichen Wiederwahlchancen in weniger als einem Jahr ankurbeln.

Als der Präsident die Reform Anfang des Jahres lancierte, rechnete er nicht damit, dass sich die Proteste bis zum Juni hinziehen würden. Er unterschätzte die Frustrationen in seinem eigenen Lager, das keine sozialliberalen Reformen will, sondern die Einhaltung von Hollandes – betont linken – Wahlversprechen. Aus dem Widerstand gegen das neue Arbeitsrecht entstand die Bewegung "Nuit Debout". Kaum ist sie etwas abgeflaut, sind die Eisenbahner in den Streik getreten. Nun streikt in EM-Städten wie Paris, Nizza oder Saint-Etienne auch die Müllabfuhr. Und bei Air France, die Tausende von Fans zur EM fliegen soll, drohen die Piloten ab Samstag in den Ausstand zu treten.

Erpressbarkeit der Regierung

Hollande steht mit dem Rücken zur Wand. Er hat schon den Fernfahrern, Fluglotsen und Lehrern wichtige Konzessionen gemacht, um neue Protestfronten zu verhindern und dadurch die Arbeitsreform zu retten. Auch vor den Eisenbahnern ist die Regierung diese Woche sofort eingeknickt: Sie lässt die Kernpunkte der Reform fallen und billigt der Bahn sogar 900 Millionen Euro an Zusatzkrediten zu. All dies zeigt, wie erpressbar die Regierung durch die Fußball-EM geworden ist.

Die Gewerkschaften wissen genau, wie viel Hollande an einer glänzenden Sportshow liegt – und dass er alles tun muss, um ein Debakel zu vermeiden. Die Geschenke an die einzelnen Berufskategorien belaufen sich auf mehrere Milliarden Euro.

Die Arbeitsreform ist damit allerdings keineswegs gerettet. Nachdem sie bereits stark Federn gelassen hat, bekämpft die größte Landesgewerkschaft CGT einen letzten Streitpunkt: die Befugnis für Firmen, sich mit internen Personalabstimmungen über Branchenabkommen hinwegzusetzen. Die Regierung sucht einen Kompromiss. Und trotzdem dürfte sie im Juli, wenn das Gesetz zur Schlussabstimmung kommt, keine Mehrheit in der Nationalversammlung finden.

Der Anführer der Konservativen, Nicolas Sarkozy, wirft dem Präsidenten "Feigheit und totalen Autoritätsverlust" vor und versteigt sich zur Behauptung: "All das führt zur Anarchie." Andere Politiker sprechen, wie Charles de Gaulle einst im Mai 1968, von "chienlit" – zu Deutsch "Schlamassel". Das klingt allerdings stark übertrieben. Die Proteste gehen von einer gewerkschaftlichen Minderheit aus, die sich die Sympathien der Bevölkerung zudem verscherzt. Die sporadischen AKW-Blockaden vermögen die Landwirtschaft so wenig zu lähmen wie die Barrikaden vor den Treibstofflagern.

Touristen fürchten sich

Doch die um die Welt gehenden TV-Bilder und Schlagzeilen von den Zuständen in Frankreich zerstören jeden Werbeeffekt der Fußball-EM. Und genau darauf setzten so viele Pariser Hoteliers und Wirte, die nach den Terroranschlägen des vergangenen Jahres Umsatzeinbußen von bis zu dreißig Prozent erlitten hatten. Jetzt fürchten sich ausländische Zuschauer erneut, nach Frankreich zu reisen. (Stefan Brändle aus Paris, 10.6.2016)