Gruppenbild mit Mann: Boris Johnson hielt sich in der Debatte mit fünf Politikerinnen und einer Moderatorin auffallend zurück.

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Am vorletzten Wochenende des Abstimmungskampfes um die britische EU-Mitgliedschaft mobilisieren beide Lager sowie die großen Parteien alle Reserven. Insbesondere die oppositionelle Labour-Partei will mehr Aktivisten in die Schlacht werfen, um die zögerliche oder sogar ablehnende Wählerschaft für den Verbleib zu gewinnen.

Die erste TV-Debatte zwischen führenden Politikern beider Lager zeigte am Donnerstagabend: Während sich die Brexit-Befürworter alle auf das Thema Einwanderung konzentrieren, herrscht bei den EU-Freunden Uneinigkeit über das richtige Vorgehen.

Die zweistündige Sendung des Kommerzsenders ITV markierte erstmals in der seit Mona-ten tobenden Auseinandersetzung ein Übergewicht weiblicher Stimmen. Die Vertreterinnen von "Stronger in Europe" (Stärker in Europa) – darunter die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon und Labours Schattenwirtschaftsministerin Angela Eagle – konzentrierten sich auf ökonomische Argumente, richteten aber auch heftige Angriffe auf den Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson.

"Mittelpunkt jeder Party"

Die Attacke gipfelte in einer Anspielung auf das turbulente Privatleben des als Schürzenjäger bekannten früheren Londoner Bürgermeisters, vorgetragen von der konservativen Energieministerin Amber Rudd: "Boris ist immer der Mittelpunkt jeder Party. Nur möchte man nicht von ihm nach Hause gebracht werden."

Der sonst keiner witzigen Replik abgeneigte Politiker hielt sich auffallend zurück. Diszipliniert betonten Johnson sowie seine beiden Mitstreiterinnen, Rudds konservative Staatssekretärin Andrea Leadsom sowie die Labour-Abgeordnete Gisela Stuart, immer wieder den Slogan der EU-Feinde: "Kontrolle zurückgewinnen". Nur außerhalb der Gemeinschaft werde es der Insel möglich sein, die Netto-Einwanderung von zuletzt jährlich 330.000 Menschen zu drosseln.

Das früher lang tabuisierte Thema macht den Labour-Aktivisten im Gespräch mit ihrer Wählerschaft zu schaffen – immerhin war es Labour-Premier Tony Blair, dessen Regierung 2004 die Türen für rund 1,5 Millionen Einwanderer aus Mittel- und Osteuropa öffnete.

"Arbeiter laufen davon"

"Die Arbeiterschaft läuft uns in Scharen davon", berichtet ein Gewerkschaftler im Nottinghamer Vorort West Bridgfield. Auch die Unterhaus-Abgeordnete Lilian Greenwood kennt solche Skepsis. Aber: "Die Poliklinik hat Kran-kenschwestern aus Portugal und Rumänien, weil wir selbst nicht genügend Personal ausbilden."

Am Freitag griff der frühere Parteichef Edward Miliband in die Debatte ein: Gemeinsam mit Parteivize Tom Watson bezichtigte er das Brexit-Lager eines politischen Betrugs: Der EU-Austritt würde Geringverdienern zusätzliche Opfer aufbürden, weil die Wirtschaft Schaden nähme.

In einer am Freitagabend veröffentlichten Erhebung des Instituts ORB für den Independent kommen die Befürworter eines Brexit auf 55 Prozent, die Befürworter eines Verbleibs in der EU erhielten 45 Prozent in der Online-Befragung unter 2000 Personen. Die meisten Umfragen sahen bisher ein Kopf-an-Kopf-Rennen. (Sebastian Borger aus London, 10.6.2016)