Um fünf Uhr früh, wenn der Nebel noch wie Watte über dem Odertal hängt, beginnt das Konzert. Dirigentin ist die Sonne, die hinter dem Horizont den Taktstock zu heben scheint: Erst quaken die Seefrösche verhalten, dann aus voller Kehle. Eine Schar Vögel stimmt ein mit ihrem Gesang. Ein paar Takte später muhen und blöken sich Kühe und Schafe in den Chor. Sobald die Sonnenstrahlen über die Baumwipfel fallen, verstummt die Natur wieder.

Der Nebel bleibt noch über dem Tal hocken, wartet womöglich auf eine Zugabe. Später legt er sich um den Stolper Grützpott, eine dicke Turmburg mit einem Umfang von 56 Metern. Sie ist das Wahrzeichen der Region. Ihren Spitznamen hat sie von einer Legende. Danach sollen vor Jahrhunderten die Besatzer zur Verteidigung der früheren Festung Grütze auf die Angreifer geschüttet haben.

Der Stolper Grützpott
trainfart

Zu Füßen des Turms steht eine Holzbank, die im Morgenlicht knallrot leuchtet. Darauf sitzt der ehemalige Biologielehrer Hans-Jörg Wilke. Anfang der 1990er-Jahre war er am Aufbau des Nationalparks Unteres Odertal im östlichen Brandenburg beteiligt, erzählt er. Während die meisten Nationalparks in Deutschland aus Wäldern bestehen, ist das Odertal eine Flussauenlandschaft, wie es sie nur noch selten gibt. 60 Kilometer schlängeln sich die Wasseradern zwischen Hohensaaten und Stettin. Dabei reichen die über 64.000 Hektar geschützter Landschaft bis nach Polen hinein.

Hochwasserprobleme wie an der südlichen Oder kennt man hier nicht. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde ein Poldersystem nach holländischem Vorbild errichtet. Die Feuchtwiesen und Sumpfgebiete sind eingerahmt von Deichen und liegen wie riesige Badewannen entlang der Oder. Schwillt der Druck im Fluss an, werden Einlauf-Schleusen geöffnet und das Gebiet absichtlich mit Wasser geflutet.

Feuchte Raststätte für Vögel

Das ist auch ein Glücksfall für die Vögel. Bläss- und Saatgänse, Stock- und Pfeifenten lieben die gefluteten Wiesen. Ein großartiges Spektakel ist es, wenn jedes Jahr rund 50.000 Kraniche auf ihrem Weg in den Süden in den Feuchtwiesen rasten.

Mit dem Fahrrad kann man einen Großteil dieses Gebiets durchqueren, eine der möglichen Touren verläuft auf einem Teilstück des Oder-Neiße-Radwegs, der vom Isergebirge bis an die Ostsee führt. Begleitet wird man dabei stets von schrägen Vögeln: Aus den Wiesen neben dem Radweg krächzen die Wachtelkönige. Und immer wieder fliegen gelbe Schafstelzen vor das Rad oder Störche kreuzen den Weg.

Bläss- und Saatgänse, Stock- und Pfeifenten lieben die gefluteten Wiesen.
Foto: APA/dpa-Zentralbild/Patrick Pleul

Die Feuchtigkeit der Flussregion nutzten die Menschen jahrhundertelang für den Anbau von Tabak, den die Hugenotten hierher brachten. Da und dort sieht man noch die alten Speicher, in denen die Tabakpflanzen in Bündeln zum Trocknen aufgehängt wurden. Das Tabakmuseum in Vierraden informiert über die Anbaukultur und zeigt Schaubeete mit den Sorten Virginia, Kentucky und türkischem Kautabak.

Auf Knien im Tabakfeld

"Ich erinnere mich noch an den wunderbaren Duft der Blüten", sagt Horst Schulz und schließt kurz die Augen. Der 79-Jährige mit schlohweißem Haarkranz hat 50 Jahre lang Geudertheimer-Tabak angebaut. "Es war harte Arbeit. Wir pflanzten auf Knien und jeden Abend wuschen wir mit Sand den Teer von den Händen. Aber wir hatten unser Auskommen". Früher arbeiteten hier fast alle Männer in den Tabakfeldern. Weil die Preise für den Rohstoff stark gefallen sind, gibt es heute nur noch eine Firma, die auf einer kleinen Fläche anbaut. Horst Schulz pflanzt stattdessen Blaufichten – und verkauft sie im Winter als Weihnachtsbäume. Den Tabak besorgt er sich jetzt in Polen.

Seit 2008 ist es möglich, direkt aus dem Nationalpark nach Polen hineinzupaddeln. Frauke Bennett bietet Kanutouren auf der Oder an. "Hat jeder einen Ausweis mit?" fragt sie die Kanuten. "Man braucht ihn eigentlich nicht, weil niemand da ist zum Kontrollieren, aber besser man hat ihn mit", sagt. Dann erklärt sie den Anfängern, wie man ins Boot steigt, ohne gleich einen Salto ins Wasser zu machen und wie man das Paddel am besten hält.

Ein neuer Aussichtsturm in der Nähe von Schwedt
Foto: istock/typo-graphics

Es geht in ein Labyrinth aus natürlichen Kanälen. Leise gluckst es bei jedem Paddelschlag. Am Ufer sprießen Sumpfschwertlilien und Beinwell, die gelben Blüten der Teichrosen leuchten schon aus der Ferne. "Das ist Kalmus", sagt Bennett später und zieht eine knorrige Wurzel aus dem Wasser: "Daraus machen wir hier Likör".

Wie zur Bestätigung zwitschert es irgendwo aus dem Uferschilf: Ein unscheinbarer Seggenrohrsänger. Er gehört zu den seltensten Vogelarten in Europa und hat im Nationalpark sein letztes größeres Brutgebiet in Deutschland. Und wie sein Name schon verrät: Singen kann er besser als alle seine gefiederten Kollegen vom Morgenchor zusammen. (Monika Hippe, 22.6.2016)