Wien – Donald Antrim (57) ist der rätselhafteste unter den großen US-amerikanischen Erzählern. Kollegen wie Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides werden nicht müde, das Lob dieses mit allen Wassern gewaschenen Außenseiters zu singen. Am ehesten schätzt man Antrim für seine Short Stories, die der New Yorker regelmäßig abdruckt. Sein kleiner Roman Die hundert Brüder, ursprünglich 1997 erschienen, ist nun endlich auf Deutsch erhältlich. Pflichtgemäß hat Kollege Franzen ein Vorwort beigesteuert; und siehe da, die Eloge nimmt sich kaum weniger erklärungsbedürftig aus als das angepriesene Werk.
Franzen geizt nicht mit Superlativen. "Erzähltechnisch" sei Die hundert Brüder ein "Wunder". Letzteres sogar im Hinblick darauf, was der Roman nicht etwa "behandelt", sondern was er ausspart. 99 Brüder versammeln sich nach guter Geschwister Sitte in einem Bibliotheksraum von unvorstellbaren Ausmaßen. Der Erzähler, ein gewisser Doug, nennt sie mit großer Gewissenhaftigkeit alle beim Namen. Die Sippe bildet eine Ansammlung unterschiedlichster Berufe und Temperamente. Ihr Ältester, ein grober Kauz namens Hiram, zählt weit über 90 Lenze und stützt die müden Knochen auf einen "Gehbock".
Der Grund für die familiäre Zusammenkunft wird zwar benannt, erscheint aber so widersinnig wie die Versuchsanordnung selbst. Man trifft sich zwischen schimmligen Folianten zum Liebesmahl. Vor allem aber gilt es, den Verbleib jener Urne auszukundschaften, in der die Asche des Stammhalters platzsparend untergebracht ist. Doug, ein dem Alkohol zugeneigter Chaot, erlegt sich keine besonderen Rücksichten auf und nennt ihrer aller Erzeuger einen "alten Hurenbock".
Die hundert Brüder gleicht, bei penibler Wahrung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung, einem rituellen Drama. Der Haufen Brüder hinterlässt einen wenig vertrauenerweckenden Eindruck. Gleich zu Anfang stürzt ein Regenwaldbotaniker ("Maxwell") nach einem Veitstanz ins Koma. Doug, die gute Seele der Rotte, kümmert sich im Verein mit einem Arzt-Bruder um den Epileptiker. Auch in diesem notdürftig kaschierten Irrenhaus gilt: Fallsüchtige sprechen die Wahrheit. So bleibt es Dougs Ohren vorbehalten, Maxwells Nachricht aufzuschnappen: "Der Gott ist unter uns!"
Der brüderlichen Kollektivlaune tun die vielen Merkwürdigkeiten, die Doug berichtet, keinen Abbruch. Vor den Mauern des Anwesens tummeln sich Habenichtse, die auf den Erlag milder Gaben hoffen. Im Saal drinnen aber herrscht das blanke Chaos. Jeder Bruder scheint mit den 98 anderen auf gutem Fuß zu stehen. Alle Altersklassen sind vertreten. Man trifft auf Zwillings- und Drillingscliquen, die meisten Kerle vertreiben sich mit dem Studium vergilbter Erotika die Zeit.
Abbild der Schöpfung
Dougs treuherziger Chronisteneifer zieht dem Leser gelegentlich den Nerv. Und so schweifen die Gedanken naturgemäß ab. Ist die "rote Bibliothek" dieser totalen Sippe lediglich das Abbild einer gründlich missglückten Schöpfung? Wo sind die Frauen, vulgo "die Mütter" geblieben – um nur von möglichen Schwestern abzusehen? Warum betreiben die Brüder eine Football-Mannschaft, und warum ist ausgerechnet der von allen belächelte Doug dazu ausersehen, als Quarterback die (zweifelhafte) Familienehre zu retten?
Schnee bricht herein. Am Deckengewölbe malt sich im Verputz das Gesicht des Urvaters ab. Ein Trinker soll er gewesen sein. Das erklärt keineswegs die außerordentliche Lendenkraft des Stammhalters. Doug tanzt, nach alter Brüder Weise, vor den Versammelten den "Kornkönig" und symbolisiert somit den Sündenbock, mit dessen Zerreißung die Urhorde ihren Blutdurst stillt.
Man selbst fühlt sich nach Genuss dieses außerordentlichen Büchleins durch Sonne und Mond geschossen. Benachbarte Bezirke der Vorstellungskraft wären, ohne Vollständigkeit: Jorge Luis Borges' Bibliotheken, die Buchstabenlandschaften des US-Postmodernisten Donald Barthelme. Auch Kenntnisse des frühen Thomas Pynchon sind für den Genuss von Antrims Planspiel nützlich.
Franzen und Eugenides nennen Antrim ein "Genie". Man schließt sich dieser Meinung umso bereitwilliger an, als Genies ja bekanntlich zur Rücksichtslosigkeit neigen. Ein Bruder fehlt im Buch übrigens. Unentschuldigt. (Ronald Pohl, 14.6.2016)