Bis zum letzten Platz war das Wiener Kreisky-Forum am Montagabend gefüllt. "Selbst Alexis Tsipras hat nicht so viele Menschen angelockt", sagte Journalist und STANDARD-Videoblogger Robert Misik zum Auftakt der Veranstaltung mit Sahra Wagenknecht, Vorsitzende der deutschen Partei Die Linke. Thema war Wagenknechts neues Buch "Reichtum ohne Gier – Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten". Kernpunkt ihrer Kritik am Kapitalismus: Viele Menschen leisten viel und verdienen dafür nicht genug. Der Kapitalismus vermittle den Eindruck, er stünde für Wohlstand, Märkte und Leistungsanreize, und jeder, der sich anstrenge, könnte sich auch nach oben arbeiten. "Das hat aber mit der heutigen Gesellschaft nichts zu tun", sagt Wagenknecht.
Auf der einen Seite gäbe es immer mehr schlecht bezahlte Arbeitsplätze, "bei denen sich Leistung eben gar nicht mehr lohnt", kritisiert Wagenknecht. Als Beispiele nennt sie Bereiche wie Altenpflege oder Kindergartenpädagogik. Zugleich beklagt sie, dass es auf der anderen Seite des Spektrums zu einem "unglaublichen Anschwellen" der Gehälter komme. Die größten Einkommen seien aber ohnehin leistungslose Einkommen aus Vermögen.
Wirtschaftsmacht nicht vererben
Wagenknecht plädiert für andere Eigentumsverhältnisse im wirtschaftlichen Bereich: ein modifiziertes Stiftungsmodell, das dazu führen soll, dass Unternehmen sich selbst gehören. Das würde laut Wagenknecht das Problem der externen Eigentümer und ihrer dem Unternehmen "aufgezwungenen Sichtweisen" beseitigen. Man müsse zudem "die Botschaft der Aufklärung ernst nehmen": Politische Macht werde längst nicht mehr vererbt, das Gleiche müsse auch für wirtschaftliche Macht gelten, fordert die Politikerin und promovierte Volkswirtin.
Bisher gibt es allerdings keine Erfolgsgeschichten von Alternativen zum Kapitalismus. Das Argument, "etwas ist so, und deshalb müssen wir es akzeptieren", will Wagenknecht aber nicht gelten lassen. Gesellschaften seien von Menschen gemacht und könnten deshalb auch von Menschen verändert werden, sagt Wagenknecht. "Und wenn die Gesellschaft gegen den Wohlstand von Menschen funktioniert, sollte man sie verändern." Das beginne damit, dass progressive Politiker zunächst dafür werben, dass Veränderungen notwendig sind.
Von politischem Konsens sind ihre Vorstellungen allerdings weit entfernt. Wagenknecht kritisiert jedoch die Ansicht, man könne nur auf internationaler oder auf EU-Ebene etwas verändern. "Es ist durchaus nicht so, dass nationale Politik machtlos ist", so Wagenknecht. Wenn in einem Land eine Mehrheit vorhanden sei, müsse man die demokratischen Entscheidungen ernst nehmen und umsetzen. "Ich möchte ein Europa, in dem sich Mehrheitsentscheidungen einzelner Länder tatsächlich auch wieder umsetzen lassen", von mehr Kompetenzen für die EU hält sie deshalb nichts. In Brüssel dominiere der Lobbyismus, es gebe keine Kontrollen. Wagenknecht glaubt nicht, dass "die europäische Demokratie als supranationale Demokratie aktuell funktionsfähig ist". (Noura Maan, 14.6.2016)