Wien – Bis vor kurzem erschien Homers Odyssee als ein bis in alle Winkel ausgemessenes Textgelände. Erst auf den zweiten Blick verliert die Schilderung von Odysseus' Irrfahrten jede Selbstverständlichkeit. Die in Duisburg lebende Autorin und Lyrikerin Barbara Köhler ist in die Rolle Penelopes geschlüpft. Penelope, so heißt die Gemahlin des listenreichen Griechen, die ihren Mann während zwanzig langer Jahre entbehrt. Den Zudringlichkeiten zahlreicher Freier erwehrt sie sich durch das Weben des Hochzeitgewandes. Den Aufschub einer drohenden Vermählung realisiert sie, indem sie das Gewebe nachts heimlich wieder auftrennt.
Homers Text ist rund 2700 Jahre alt. Er bildet seinerseits ein hauchfeines, fragiles Textil. In den Anblick der altgriechischen Knoten und Webmuster vertieft sich Köhler seit rund 20 Jahren. In zwei Wiener Vorlesungen – die zweite ist Mittwoch Abend zu hören und zu bestaunen – dröselt die Autorin die Fäden der Handlung auf höchst erstaunliche Weise auseinander.
"Polytropos" ist Odysseus: vielgewandt, wendig, verschlagen. Den Nachstellungen durch den Meergott entgeht er mit knapper Not. Homer jedoch, der blinde Sänger, erzählt die Reise des Kriegers außer Dienst nicht etwa vom Anfang bis zum Ende. Köhler spricht von der "Geschichte einer Trauma-Bearbeitung", vorgebracht im Rückwärtsgang, in Slow Motion. Sie sagt: "Indem man verschiedene Übersetzungen miteinander vergleicht, stößt man immer wieder auf Stellen, die sich nicht ohne weiteres übertragen lassen." Oft handle es sich dabei um verzwickte Einzelwörter.
"Pharos" sei der Mantel. Das Wort ist zugleich der Name einer Insel. Es meint überdies Penelopes Gewebe und hallt wie ein Echo durch den Schallraum des Epos. So, wenn sich Telemach, Odysseus' Sohn, einen "pharos" überzieht. Es scheint, als ob solche Begriffe Knoten bildeten. Wie aus lauter Kett- und Schussfäden entsteht ein Text, den man, mit dem passenden Begriff gesagt: "topologisch" auffassen muss. Es entsteht ein Gebilde von klaren, mithin nicht leicht erkennbaren Proportionen. Wer immer der kleinasiatische Blinde Homer (etwa 850 vor Christus) tatsächlich gewesen sein mag, sein großer Gesang genügt höchsten modernistischen Ansprüchen.
Barbara Köhlers Leidenschaft für Homer wurde noch in ihrer ostdeutschen Jugend angefacht. "Es muss 1969 gewesen sein, da war die Odyssee mein erstes eigenes Buch. Eine Nacherzählung von Ilias und Odyssee von Franz Fühmann. Es war das erste Mal, dass ich ein Buch derart intensiv begehrt habe, dass ich einen unglaublichen Aufstand angezettelt habe." Köhler ist Sächsin. In den 1990er-Jahren übersiedelte sie nach Nordrhein-Westfalen.
Altphilologische Kenntnisse habe sie sich erst sehr viel später "draufgepackt". "Heute kann ich das Altgriechische lesen, und ich kann mit Wörterbüchern arbeiten." Sie selbst bevorzugt Roland Hampes Übertragung gegenüber der kanonischen von Johann Heinrich Voss. Letzterer "umschreibe" häufig das Zielwort und verunklare so die Struktur.
Aufweis der Weiblichkeit
Der Kitzel liegt für Köhler im Aufweis dessen, was man in aller Vorsicht die weibliche Domäne der Schrift nennen könnte. Penelope ist eine Vorläuferin der berühmten Scheherezade. Diese erzählt bekanntlich tausendundeine Nacht lang, um ihre Lebensfrist zu verlängern. Die Echos der Odyssee verweisen auch auf die jeweilige Stellung der Frau(en) im Text, etwa auf die unselige Gattenmörderin Klytaimnestra, deren "Ansehen" mit Fortdauer der Erzählung umso mehr schwindet, je reiner das Gattinnenideal der Penelope ans ägäische Licht gebracht werden soll.
Köhler wird weiterknüpfen an ihrer eigenen Homer-Paraphrase, einem Metaepos. Ihre essayistische Unternehmung ist noch lange nicht abgeschlossen. Sie ist zurzeit ohne Beispiel im deutschsprachigen Literaturbetrieb. (Ronald Pohl, 14.6.2016)