Obwohl viele gegen das Freihandelsabkommen TTIP protestieren (im Bild eine Demo in Hannover im April), wird weiterverhandelt, kritisiert die Politologin Ulrike Guérot.

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Ulrike Guérot ist Politikwissenschafterin in Krems.

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STANDARD: Die Grundthese Ihres neuen Buches lautet überspitzt gesagt: Die EU ist tot, es lebe die europäische Republik. Woran ist die EU denn gestorben?

Guérot: Wir sind vielleicht noch in den letzten Phasen des Siechtums, aber die Krisen der letzten Jahre deuten auf multiples Organversagen hin. In diesem Bild der Organe und einer Körperlichkeit Europas ist aber gleichzeitig als Imago etwas zu holen: In Darstellungen aus dem Mittelalter wird Europa als körperliche Einheit, als Frau gezeigt, in deren Kleid alle Völker Europas ihren angestammten Platz haben. Eine solche Lesart führt alle Debatten über Brexit, Ungarexit oder sonstige Austritte ad absurdum: Selbst wenn Viktor Orbán (ungarischer Ministerpräsident; Anm.) morgen entscheidet, er will raus aus der EU, so kann Ungarn doch nicht aus Europa weglaufen.

STANDARD: Wie rasch bewegen wir uns auf das Ende dieser EU zu?

Guérot: Eine Kristallkugel habe ich nicht. Es geht mir auch nicht darum, das herbeizureden oder zu wünschen, denn: Wenn Systeme krachen, ist das immer ungemütlich, das sind problematische Momente in der Geschichte. Aber umgekehrt zu sagen, "Friede, Freude, Eierkuchen, der EU kann nichts passieren", heißt eben auch, die Realität zu verleugnen.

STANDARD: Sie kritisieren das Demokratiedefizit der EU – warum?

Guérot: Wir haben mit dem Trio aus Kommission, Rat und Parlament ein System geschaffen, das den grundlegenden demokratietheoretischen Anforderungen nicht entspricht: Wir haben keine klare Gewaltentrennung zwischen Legislative und Exekutive. Unser Parlament hat keine Legislativrechte und entspricht nicht dem Prinzip "one person, one vote". Wir haben also zumindest eine sehr verkorkste Input-Legitimität. Lange Zeit funktionierte Europa über die Output-Legitimität, die da hieß: Jobs und Frieden für alle. Das Wachstum wird nun auf absehbare Zeit nicht ausreichen, und auch wenn wir keinen Krieg haben, so ist doch der soziale Friede längst nicht mehr gewahrt.

STANDARD: Sehen Sie die Gewinne der populistischen Parteien quer durch Europa als Reaktion auf das Demokratiedefizit?

Guerót: Ja, ich sehe das als eine Reaktion darauf, dass die Leute das Gefühl haben: Der Euro, der Binnenmarkt, die Ölkännchen – alles regiert in mich hinein, und selbst wenn ich mich dagegen wehre, nützt das nichts. Obwohl viele Leute gegen TTIP (Freihandelsabkommen mit den USA; Anm.) opponieren, macht die Kommission immer weiter und verhandelt. Wir haben praktisch keinen parlamentarischen Prozess, der TTIP kontrolliert. Die Bürger wehren sich – es passiert trotzdem. Wir sollten diese Kritik der sogenannten Populisten ernst nehmen. Dass die Populisten neben dem Anti-Euro-Bein auch meist auf einem xenophoben und rassistischen Anti-Migration-Bein wandern, verführt aber dazu, sie auszugrenzen.

STANDARD: Genau diese Populisten wollen jedoch zurück zum Nationalstaat.

Guérot: Ja, aber gleichzeitig haben wir doch alle das Gefühl: Ein Zurück zum Nationalstaat geht nicht mehr, wir haben den Euro, und alleine sind wir zu klein, um der Globalisierung etwas entgegenzusetzen. Wir müssen also jetzt aus der Krise die Chance machen und Europa richtigmachen. Wir müssen den Bürgern ein emotionales und ein politisches Angebot machen.

STANDARD: Sie schlagen vor, dieses System als Republik Europa zu denken. Wie soll das konkret funktionieren?

Guérot: Man könnte die Nationalstaaten auflösen – so wie es von den europäischen Gründungsvätern auch gedacht war – und ein Europa der Regionen schaffen, über das man ein gemeinsames Dach der europäischen Republik spannt. Republik im Sinne von Cicero, "iuris consensus", bedeutet: Man einigt sich auf gleiches Recht. Dann müssen wir nicht mehr die Nationalstaaten – und in ihnen die Bürger – gegeneinander antreten lassen und fragen: Wer hat die besseren Steuern, mehr Export, mehr Sozialleistungen, frühere Pension? Man müsste sich im Europaparlament auf gemeinsame Regeln einigen. Im Grund wäre das ein Entspannungsfaktor.

STANDARD: Gleiches Recht für alle bedeutet aber möglicherweise auch Aufgabe von nationalen Errungenschaften, beispielsweise den österreichischen Regelungen für gentechnikfreie Lebensmittel.

Guérot: Ich bin sehr für gentechnikfreie Lebensmittel, hoffe aber, dass Österreich seine Identität nicht nur an gentechnikfreie Lebensmittel bindet. Das wäre doch auch ein bisschen wenig. Ich denke, dass die eigentlich identitäre Bindung eine regionale ist. Beispielsweise sind wir in Krems in der alten Kulturregion der Wachau. Nationale Grenzen verlaufen immer irgendwie artefaktisch, sie wurden meist nach Kriegen gezogen. Darunter finden wir, wie wenn man die Übermalungen eines Tizian-Gemäldes freikratzt, die Kulturregionen Böhmen und Katalonien, Schottland, die Wachau, Tirol oder Sachsen. Damit kann jeder etwas anfangen, niemand verliert seine Identität.

STANDARD: Doch auch die derzeitigen Nationen bieten eine gewachsene Identität. Warum sollen wir diese also auflösen?

Guerót: In der EU sind einige Nationalstaaten derzeit gleicher als andere: Wir haben drei große Elefanten, und die heißen Deutschland – das ist der allerdickste Elefant – und danach, fast ebenso dick, Frankreich und Großbritannien, und die machen die anderen nationalstaatlichen Mäuslein platt. Wenn wir das nicht mehr hinnehmen wollen, sollten wir über 50 bis 60 etwa gleich große Einheiten nachdenken. Studien zufolge sind acht bis 15 Millionen eine optimale Betriebsgröße für staatliche Einheiten. Demnach wären Bayern, Sachsen, Österreich, Nordrhein-Westfalen oder Ungarn optimale Einheiten. Diese Regionen erhalten eine regionale Selbstverwaltung, der regionale Parlamentarismus wird in einer zweiten Kammer aufgewertet, parallel zu einem europäischen Parlament, das dem Prinzip der Wahlrechtsgleichheit entspricht.

STANDARD: Welche Schwerpunkte planen Sie für das Department Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems?

Guerót: In Krems wird derzeit darüber nachgedacht, den Begriff der gesellschaftsrelevanten Universität weiterzuentwickeln. In diesem Zusammenhang werde ich auch meine Forschung auf aktuelle Themen ausrichten – Brexit, Terrorismus, Populismus oder eine Marine Le Pen, die Frankreich regiert: Es geht um die wissenschaftliche Einordnung des zeitgenössischen Geschehens. Besonders wichtig ist mir der emotionale Zugang zu Europa, denn politische Projekte sind mehr als "rational choice". Wie Jacques Delors (langjähriger Präsident der Europäischen Kommission; Anm.) immer gesagt hat: Wir können uns nicht in einen Binnenmarkt verlieben. Dabei möchte ich mit neuen Forschungswegen auch emotionale Anschlussstellen zu Europa finden. (Heidemarie Weinhäupl, 16.6.2016)