Vereinzelt ein Stinkefinger, ansonsten aber eine fröhliche, bunte Parade von 30.000 Menschen am vergangenen Samstag durch Warschau. Ich hatte Proteste und Attacken so wie bei der Europride 2010 befürchtet, gerade auch, weil die neue PiS-Regierung ihr Missfallen gegenüber uns Lesben und Schwulen immer wieder zum Ausdruck bringt. Aber dieses Mal war es anders: Keine Attacken von Rechtsextremen oder katholischen Fundamentalisten, alles friedlich. Dieses Mal flankierten unseren Weg durch die Stadt freundliche Passanten auf den Gehsteigen und offene Fenster, aus denen uns Jung und Alt zuwinkten. An diesem Tag in Warschau haben Liebe, Freude und Vernunft gegen Hass, Hetze und Ausgrenzung gesiegt.
Und dann kam der Sonntag mit der Nachricht aus Orlando: Fassungslosigkeit und Entsetzen! So viele Tote, so viele Verletzte! So viele Menschen weggefegt von einem Einzelnen, nur weil sie ihr Leben auf ihre Weise leben und feiern. Mittlerweile hat der IS das Schussattentat für sich vereinnahmt. Ein Terroranschlag also. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Das stimmt: Es war ein Angriff auf die offene, liberale Gesellschaft, und somit gegen alle Bürger. Es stimmt aber auch nicht: Terror allein als Erklärung ist falsch. Denn dieser Angriff war nicht wahl- und ziellos, sondern hatte es auf uns LGBTI-Menschen (das Kürzel steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender/Transsexual and Intersexed, Anm.) abgesehen, auf unsere Weise zu leben und zu lieben.
Anschläge auf unsere Community verletzen uns, aber sie können uns nicht aufhalten.
Der Juni ist "unser" Monat, in dem weltweit unsere Paraden gefeiert werden. Der Zeitpunkt des Anschlags war also bewusst gewählt. Dieses Attentat zielt auf das Herz der LGBTI-Bewegung – und es wurde getroffen, wir trauern um die Opfer und mit deren Angehörigen. Aber nichts und niemand kann dieses Herz zerstören. Wenn wir der Angst nachgeben, dann haben sie schon gewonnen. Wir verstecken uns nicht mehr, und wir lassen uns nicht mehr vertreiben – aus den Lokalen, aus unseren Familien, aus Schulen, Universitäten, Unternehmen, Sportvereinen, nicht aus der Politik. Orlando hat gezeigt, dass es beim Stinkefinger nicht bleiben muss, sondern jemand diesen Finger an den Abzug legen und durchdrücken kann. Deswegen trete ich dafür ein, schon den Stinkefinger wie auch verbale Hetze zu ächten und die Gleichstellung von LGBTI-Menschen überall rechtlich zu garantieren – und diese Verpflichtung dann auch zu leben.
Ich habe mit Warschau begonnen, ich höre damit auf: Polen hat Europa und die Welt gelehrt, was Solidarität und der Kampf für Freiheit bedeuten. Der Juni ist "unser Monat" und bietet viele Gelegenheiten, Solidarität zu zeigen. Zum Beispiel beim 20-Jahr-Jubiläum der Regenbogenparade am 18. Juni in Wien unter dem sehr aktuellen Motto "Grenzen überwinden". Oderso wie ich an diesem Tag als EU-Unterstützer bei der Baltic Pride in Vilnius, mit hoffentlich vielen freundlichen Passanten auf den Gehsteigen und offenen Fenstern, aus denen uns Jung und Alt zuwinken. (Ulrike Lunacek, 14.6.2016)