Die Boulevard-Postille "The Sun" war auch in der Vergangenheit stets EU-kritisch. Nun bekennt sie sich zum Brexit-Lager.

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Mit einer Demonstration der Geschlossenheit haben sich am Dienstag führende Labour-Politiker und Gewerkschaftsführer für Großbritanniens Verbleib in der EU ausgesprochen. "Die Rechte der Arbeitnehmer würden durch unseren Austritt gefährdet", sagte Parteichef Jeremy Corbyn bei einem gemeinsamen Auftritt mit seinem Schattenkabinett in London. Weil viele Labour-Anhänger ihrer Partei die Gefolgschaft verweigern, suggerieren jüngste Umfragen einen Vorsprung der EU-Feinde; der Firma Yougov zufolge wollen am kommenden Donnerstag 54 Prozent der Briten für den Brexit votieren. Der Börsenindex FTSE fiel erstmals seit vier Monaten unter die 6.000er-Marke.

Laut der britischen Boulevard-Postille "The Sun" sprechen sich 46 Prozent der Befragten für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union aus. 45 Prozent sind dagegen. Damit ist der Abstand von elf Prozentpunkten aus dem vergangenen Monat auf nur noch einen Punkt zusammengeschmolzen. An der jüngsten telefonischen Befragung des Meinungsforschungsinstituts Comres im Auftrag der Zeitung nahmen 1.002 Personen teil.

Angst vor Einwanderung

Das Brexit-Lager hat seit Monaten mit dem Slogan "Kontrolle zurückgewinnen" gegen die Freizügigkeit innerhalb der EU polemisiert. Der Statistikbehörde ONS zufolge lag die Nettoeinwanderung im vergangenen Jahr bei rund 330.000 Menschen, wobei sich Bürger aus anderen EU-Staaten und aus dem Rest der Welt ungefähr die Waage hielten. Labour-Aktivisten berichten aus Gesprächen mit registrierten Wählern ihrer Partei, dass vor allem schlecht Ausgebildete, Niedrigverdiener und Arbeitslose sich von Immigranten bedroht fühlen.

Der frühere Innenminister Alan Johnson, der die Pro-EU-Kampagne der alten Arbeiterpartei leitet, sprach die weitverbreiteten Sorgen am Dienstag erstmals frontal an. Ein Austritt aus dem Brüsseler Klub würde "unsere Probleme vergrößern", erklärte er. So werde das Arrangement mit Frankreich hinfällig, wonach britische Beamte in Calais Einreisewillige kontrollieren. In der französischen Hafenstadt besteht seit längerem ein Dschungel genanntes Camp von tausenden Flüchtlingen aus Subsahara-Afrika und Asien; mehrere junge Männer sind beim Versuch der Einreise auf die Insel ums Leben gekommen.

Umfragen sehen Zuwächse für Brexit-Lager

Die Brexit-Lobby Vote Leave, angeführt von den Konservativen Boris Johnson und Michael Gove, verspricht außer weniger Immigranten auch mehr Geld für die öffentliche Infrastruktur, weil das Land zukünftig seine EU-Beiträge in Milliardenhöhe einsparen könne. Dabei handle es sich um "Phantasieökonomie", kritisiert Labours letzter Finanzminister Alistair Darling, der vor zwei Jahren die Kampagne für Schottlands Verbleib im Vereinigten Königreich leitete. "Wenn wir Europa verlassen, machen wir unsere Wirtschaft kaputt." Das unabhängige Institut für Fiskalstudien IFS sowie die Zentralbank haben einen Rückgang des Wachstums prognostiziert, was weitere massive Einsparungen im Staatshaushalt nötig machen würde.

Seit Monatsbeginn mehren sich die Umfragen, die Zuwächse für das Brexit-Lager sehen. In der Yougov-Befragung gaben sich immerhin noch neun Prozent unschlüssig, während vier Prozent zur Stimmenthaltung entschlossen waren. Unklar bleibt stets, wie viele Wähler wirklich den Weg zur Urne antreten. Während die Demoskopen lang von geringem Interesse sprachen, deuten Signale aus umkämpften Gebieten jetzt auf mehr Bürgerbeteiligung hin.

Boulevard-Medien für Brexit

Als eine der ersten großen Zeitungen hat sich am Dienstag die "Sun" des US-australischen Medienzaren Rupert Murdoch positioniert. Dass das Millionenblatt für den Brexit ist, überraschte im politischen London nicht. Es ist die Kulmination einer gut 30-jährigen Kampagne gegen das "diktatorische Brüssel".

Auch die Sympathien der meisten anderen meinungsbildenden Medien waren zuletzt offenkundig. Spannend bleibt die Frage, welche Wahlempfehlung Murdochs Traditionsblatt "Times" seiner Leserschaft geben wird. (Sebastian Borger aus London, 15.6.2016)