"In" oder "out", in der EU bleiben oder Austritt. Das ist hier die Frage.

Foto: AFP/BEN STANSALL

Die Briten müssen sich am 23. Juni entscheiden.

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In der politischen Auseinandersetzung Großbritanniens dreht sich momentan alles um das Brexit-Referendum. Befürworter und Gegner liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die weitreichenden Auswirkungen eines Brexits werden allerdings nur unzulänglich thematisiert.

Dann sollen sie doch gehen?

Großbritannien blockiert seit jeher eine politische und soziale Dimension der europäischen Integration. Verständlicherweise herrscht in Österreich daher die Meinung: Wenn sie nicht wollen, ständig blockieren, dann sollen sie doch gehen. Das Problem dabei ist, dass die Auswirkungen eines Brexits größer wären, als von vielen bedacht.

Einerseits würde die Mehrheit der Menschen in Großbritannien massiv unter noch geringeren Sozialstandards leiden. Andererseits könnten Spillover-Effekte auf andere EU-Mitgliedsländer in einem bereits EU-skeptischen Klima einen dynamischen Desintegrationsprozess in Gang setzen, der nicht mehr aufzuhalten wäre; Harald Vilimsky (FPÖ) spricht schon vom "Öxit".

Britische Perspektive

Die britische Perspektive auf eine europäische Integration ist historisch konträr zur österreichischen. Während die EU aus österreichischer Perspektive als neoliberales Elitenprojekt, dominiert von Konzerninteressen, kritisiert wird, waren es in Großbritannien vor allem sozialliberale Kräfte, die sich für mehr Integration eingesetzt haben. So war Labour (Sozialdemokratie) traditionell die Pro-EU-Partei, während die Tories (Konservative) der EU immer skeptischer gegenübergestanden sind. Aber gerade die traditionellen Labour-Wähler haben, seit Großbritannien in den 70ern der EU beigetreten ist, stark an Einkommen und Lebensstandard verloren.

Es stellt sich daher die Frage, welcher der folgenden Faktoren dafür verantwortlich ist: Europäische Integration, Hyper-Globalisierung, Modernisierung oder eine Veränderung der Kräfteverhältnisse nationaler Politik. Je nachdem, wie die Frage beantwortet wird, stehen Wähler der EU positiv oder negativ gegenüber.

Unglaubwürdiges Narrativ

Der proeuropäische Narrativ der Neunziger- und Nullerjahre, Koordinierung nationaler Politiken sei notwendig, um Globalisierung zu managen, Klima- und Strukturwandel abzufedern, ist für weite Teile der Bevölkerung unglaubwürdig geworden. Spätestens seit dem Beginn der Eurokrise 2010 ist offensichtlich, dass es an breiter Zustimmung für weitere Integration fehlt. Deren Durchsetzung ist zunehmend nur noch autoritär möglich. Dies stärkt Europaskeptikern den Rücken und macht den Ausgang des Brexit-Referendums ungewiss. Unter diesen Umständen tut sich auch die neue Linke unter Jeremy Corbyn schwer, glaubwürdig für einen Verbleib in der EU zu argumentieren.

Auswirkungen auf Großbritannien

Stimmen die Briten für den Brexit, wird große Unsicherheit die ersten Jahre prägen. EU-Institutionen werden versuchen, ein Exempel an Großbritannien zu statuieren, um einen Austritt für andere Länder wenig schmackhaft zu machen. Das heißt, Großbritannien einen möglichst nachteiligen Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren. Ein Mehrheitsvotum für den Brexit bei gleichzeitiger Minderheit in Schottland, wird Schottlands Unabhängigkeitsbestrebungen wieder Auftrieb verleihen.

Innerhalb der regierenden Tories wird es zu einem Rechtsruck führen, Boris Johnson womöglich David Cameron ersetzen. Massive Angriffe auf ohnehin schon minimale Sozial- und Arbeitsstandards sind vorprogrammiert. Scheinbare Selbstverständlichkeiten wie die 40-Stunden-Woche, vier Wochen gesetzlicher Urlaub pro Jahr, Anspruch auf Mutterschafts- und Vaterschaftskarenz werden dann offen infrage gestellt. Besonders darunter leiden werden paradoxerweise jene wirtschaftlichen Verlierer der vergangenen 30 Jahre, die tendenziell EU-skeptisch eingestellt sind.

Auswirkungen auf die EU

In den ersten Jahren besteht eine realistische Gefahr für Übertragungseffekte innerhalb Europas: Rechtsaußen-Parteien werden weiteren Aufwind bekommen; eine EU-ablehnende Haltung im politischen Establishment Fuß fassen; "Öxit" nicht ausgeschlossen. Die Dynamik eines einmal gestarteten Desintegrationsprozesses ist kaum aufzuhalten. Der Zerfall der ansatzweisen politischen Union in Europa wird allerdings keineswegs ein automatisches Ende des Binnenmarkts bedeuten. Viel eher wird eine Freihandelszone ohne direkt demokratische Mitbestimmungsrechte und ohne minimale Sozial- und Arbeitsstandards bestehen bleiben. Als Folge politischer Desintegration bei bestehender Freihandelszone wird 1. Merkel Europa regieren (und die deutsche Bundesbank die Währungspolitik bestimmen) und 2. dies weiteren Brennstoff für ein "Race to the bottom" an Sozial- und Arbeitsstandards liefern.

Mehr politische Integration?

Sollte die EU die ersten Jahre nach einem Brexit überstehen, besteht die Möglichkeit verstärkter politischer Integration. Das heute am stärksten den Euro ablehnende Land innerhalb der EU wird von außerhalb der EU nicht mehr imstande sein, politische Integration weiter zu blockieren. Die deutsche Dominanz innerhalb der EU wird nur mit einer Demokratisierung der EU-Institutionen ausgeglichen werden können. Mittelfristig werden alle verbleibenden EU-Mitgliedstaaten dem Euro beitreten. Der Weg zu einem möglichen Europarlament mit eigener Euroregierung wäre wahrscheinlicher als je zuvor.

Wie demokratisch eine weitere Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion abläuft, ist eine andere Frage – deren Antwort von den nationalen Machtverhältnissen in den verbleibenden Euroländern abhängt. (Lukas Lehner, 17.6.2016)