Blumen bei einer improvisierten Gedenkstätte für Jo Cox vor dem Parlament in London.

Foto: APA/AFP/Leal

Nach dem mörderischen Anschlag auf eine Abgeordnete des Londoner Unterhauses haben am Donnerstag beide Lager im EU-Referendumskampf ihre Kampagnen vorläufig unterbrochen. Die Labour-Politikerin Jo Cox, 41, wurde am frühen Nachmittag vor der Bibliothek von Birstall bei Leeds (Grafschaft Yorkshire) durch mehrere Schüsse sowie Messerstiche lebensgefährlich verletzt. Sie starb kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus. Die Polizei nahm wenig später einen 52-Jährigen Arbeitslosen fest, der wenige Straßen entfernt wohnt. Premierminister David Cameron sowie Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn äußerten sich bestürzt über die Bluttat. "Sie war ein Star für ihre Wähler und ein Star im Parlament über Parteigrenzen hinweg", sagte der Regierungschef.

Die Mutter von zwei Kindern war erst vor einem Jahr für ihren Heimatbezirk Batley and Spen ins Unterhaus gewählt worden und genoss dort bereits hohes Ansehen. "Sie hat uns alle mitgerissen", berichtete der konservative Abgeordnete und frühere Entwicklungshilfeminister Andrew Mitchell dem TV-Sender Channel Four. Vor ihrer Wahl ins Parlament arbeitete Cox als Lobbyistin für die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam. Als Parlamentarierin engagierte sich die Absolventin der Elite-Uni Cambridge besonders für eine Lösung des Bürgerkriegs in Syrien. Dafür gründete sie eine überparteiliche Gruppe interessierter Abgeordneter, der sie auch vorsaß. Bei der Abstimmung über den Einsatz der Royal Air Force in Syrien enthielt sich Cox der Stimme und verstieß damit gegen die Vorgabe der Parteiführung.

Glauben an bessere Welt

Mit ihrem Mann Brendan und den zwei jungen Kindern lebte Cox in einem umgebauten Lastkahn, der auf der Themse nahe der Tower Bridge festgemacht ist. "Sie glaubte an eine bessere Welt und kämpfte dafür mit einer Energie, die viele andere erschöpfen würde", schrieb Cox' Mann in einer Stellungnahme. Der Manager von Entwicklungshilfeorganisationen rief zur Einigkeit auf "gegen den Hass, der sie getötet hat".

Bei einer Pressekonferenz in Leeds verweigerte die Leiterin der örtlichen Kriminalpolizei, Dee Collins, Angaben zum Motiv des mutmaßlichen Täters. Augenzeugen hatten berichtet, der Täter habe "Britain First" gerufen, was auf einen rechtsextremen Hintergrund schließen ließe. Die winzige Partei gleichen Namens wies jede Verantwortung von sich. Nachbarn des Tatverdächtigen, der seit 32 Jahren in der gleichen Sozialwohnung gelebt hat, konnten sich an politische Äußerungen des passionierten Gärtners nicht erinnern.

Anschlag nach Bürgersprechstunde

Die Tat ereignete sich auf dem Marktplatz vor der Bibliothek der Stadt. Cox hielt dort eine wöchentliche Bürgersprechstunde ab, was der Routine von Unterhaus-Abgeordneten entspricht. Beim Verlassen des Gebäudes, womöglich für eine kurze Mittagspause, kam es zu dem Anschlag. Die Abgeordnete wurde durch mindestens zwei Schüsse aus einer womöglich selbstgebastelten Schusswaffe getroffen. Zusätzlich stach der Täter mit einem langen Messer auf die am Boden liegende Frau ein. Anschließend soll er der Kripo zufolge noch einen 77-Jährigen attackiert haben, dessen Verletzungen wurden am Donnerstagabend aber als nicht lebensgefährlich beschrieben.

Premier Cameron sagte eine geplante Reise nach Gibraltar ab, wo er für den Verbleib Großbritanniens in der EU werben wollte. Alle Lager im Referendumskampf vereinbarten Ruhe für den Abend, auch mehrere für Freitag geplante Veranstaltungen wurden gestrichen. Cox war Anhängerin der britischen EU-Mitgliedschaft. Ob der Anschlag mit dem Referendum in Verbindung stand, blieb am Donnerstag noch offen.

Angriffe auf britische Parlamentsabgeordnete sind extrem selten. Im Jahr 2000 attackierte ein psychisch Kranker den liberal-demokratischen Abgeordneten von Cheltenham (Grafschaft Gloucester) mit einem Samuraischwert. Nigel Jones überlebte den Anschlag schwerverletzt, sein Assistant Andrew Pennington starb. Den Labour-Abgeordneten Stephen Timms attackierte kurz nach der Wahl im Mai 2010 in der Bibliothek seines Ostlondoner Wahlkreises eine Islamistin. Der langjährige Finanzstaatssekretär kam mit schweren Bauchverletzungen ins Krankenhaus, seine Angreiferin, 21, wurde wegen Mordversuchs zu lebenslanger Haft verurteilt. Ermordet wurde 1990 der enge Vertraute der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher, Ian Gow, durch irische Terroristen. (Sebastian Borger aus London, 16.6.2016)