Kurzfristig steigert Stress die Leistungsfähigkeit, als Dauerelement im Alltag ist er ungesund – und lässt Menschen ausbrennen.

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Stress genießt keinen guten Ruf. Das gilt umso mehr, seit er aus dem Arbeitsleben in den modernen Büros der Leistungsgesellschaft gar nicht mehr wegzudenken ist. Doch entgegen seinem negativen Image hat Stress zwei Gesichter. Solange er nur kurz anhält und kontrollierbar ist – etwa während einer Präsentation vor den Arbeitskollegen -, kann er helfen, leistungsfähiger zu sein. Aber wenn man gänzlich unvorhergesehen drei Stunden vor dem wichtigen Meeting Stress ausgesetzt ist, etwa weil der Drucker die Präsentation nicht ausspucken will, dann ist er kontraproduktiv.

Außerdem wirkt sich seelische Anspannung sehr unterschiedlich auf einzelne geistige Leistungen aus. "Unter Stress werden die Energieressourcen des Körpers umverteilt", sagt Mathias Schmidt vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. "Einige Aspekte des Gedächtnisses werden unterstützt, man kann sich etwa an die stressauslösende Situation besser erinnern, um sie beim nächsten Mal zu vermeiden." Doch damit das Gehirn Energien spart, müssen andere Leistungen heruntergefahren werden. Das kann zulasten einer wichtigen Fertigkeit in der sich ständig wandelnden Arbeitswelt gehen, der Fähigkeit, sich mental an neue Umstände, etwa neue Arbeitsabläufe, anzupassen.

Gehörige Portion Stress

Auf welchem Weg sich Stress in einer geringeren geistigen Flexibilität niederschlägt, hat Schmidt gemeinsam mit einem internationalen Forscherteam für das Fachblatt Biological Psychiatry unter die Lupe genommen. In der Studie waren aber nicht die Arbeitstiere der modernen Leistungsgesellschaft seelischen Strapazen ausgesetzt, sondern Mäuse. Schmidt setzte sie in den Käfig von dominanten männlichen Artgenossen, die von dem Besuch alles andere als begeistert waren. Die Auseinandersetzungen zwischen den Nagern währten zwar nur kurz, schließlich sollten sich die Tiere nicht gegenseitig verletzen. Aber auch einige Sekunden sorgten für eine gehörige Portion sozialen Stress.

"Die Maus ist wie der Mensch ein soziales Lebewesen", erklärt Schmidt. "Wenn Sie der Chef nur für einige Sekunden anbrüllt und anschließend die Tür hinter sich zuwirft, genügt dies, um bei Ihnen für den Rest des Tages einen höheren Stresslevel auszulösen."

Hirn steuert

Auch bei den Nagern hinterließ die soziale Ausnahmesituation Spuren. Einige Stunden nach dem unfreiwilligen Aufenthalt im Käfig der Artgenossen konnten sie sich nicht an einen geänderten Weg in einem ihnen ansonsten bekannten Labyrinth gewöhnen. Dass sie orientierungslos herumirrten, hat seine Ursache im präfrontalen Cortex. Dieses Kontrollzentrum des Gehirns sitzt direkt hinter der Stirn und verknüpft aktuelle mit älteren Erfahrungen. Es ermöglicht so Mensch und Tier, sich an eine verändernde Umwelt anzupassen. Doch es reagiert äußerst sensibel auf Stress.

Was genau für diese Anfälligkeit im Gehirn verantwortlich ist, konnten Schmidt und seine Kollegen durch eine Reihe von genetischen und pharmakologischen Tricks herausfinden. Schuld ist das sogenannte Corticotropin-releasing Hormone (CRH). Dieses Neuropeptid steuert die Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol. "Es wird aber auch in verschiedenen Hirnregionen freigesetzt und kann über entsprechende Andockstellen, die Rezeptoren, die Aktivität von Hirnschaltkreisen beeinflussen", so Schmidt. Dieser "Stressfaktor" fand sich nun auch im präfrontalen Cortex der Mäuse. "Das Neuropeptid CRH bindet dabei an einen entsprechenden Rezeptor und setzt eine Signalkaskade in Gang, an deren Ende nach einigen Stunden die kognitive Leistungsfähigkeit, vor allem die geistige Flexibilität, herabgesetzt wird."

Flexibel bleiben

Doch die Forscher setzten auch erfolgreich einen "Stressblocker" ein, durch den die Nager geistig flexibel blieben und die neue Route im Labyrinth meisterten. Mithilfe eines sogenannten Antagonisten hinderten sie einfach den "Stressfaktor" CRH daran, an seine Andockstelle zu binden.

In den Ergebnissen seines Teams sieht Schmidt nicht nur einen Schritt hin zu einem besseren Verständnis der Wirkung von Stress. Er verbindet mit ihnen auch therapeutische Hoffnungen: "Schließlich ist Stress beim Menschen einer der Hauptrisikofaktoren für eine Reihe von psychiatrischen Erkrankungen wie Depressionen." Die von seiner Forschergruppe eingesetzten "Stressblocker" könnten möglicherweise bei einem ganz bestimmten Aspekt der Erkrankungen helfen. Denn Betroffene haben nicht nur mit der psychischen Krankheit selbst zu kämpfen. Auch ihr mentale Leistungsfähigkeit ist oft in Mitleidenschaft gezogen – darunter: die Fähigkeit, flexibel zu sein. (Christian Wolf, 18.6.2016)