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Die Kleine Meerjungfrau ist nur 125 Zentimeter hoch. Vorbild für die Bronzefigur in Kopenhagen war das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen.

Foto: AP / Tariq Mikkel Khan

Die dänische Autorin Josefine Klougart studierte Geschichte und Literatur in Aarhus und besuchte die Danish Writer's School in Kopenhagen.

Foto: Sofie Amalie Klougart

Die Sonne geht über dem Meer auf. Der Vater steht auf, geht durch die Räume. Macht Kaffee in der Küche, macht alles bereit. Federn und Wachs und Faden. Wir müssen daran glauben, dass wir wegkommen können, wenn wir wollen. Wir sollen daran glauben, dass der Tag das Beste für uns bereithält. Die Sonne ist hartnäckig, wirft ihre Platten von Licht durch den Spalt unter der Tür, wie einen Brief. Dunkelheit ist die Hand, welche die Sonne aufzwingt, Finger für Finger, zeigt uns, was die Natur die ganze Nacht so fest in der Hand hielt.

Er geht zum Bett, wo seine Tochter liegt und schläft. Er greift nach dem Handgelenk des Mädchens, öffnet ihre Hand, einen Finger, den nächsten. Die Strahlen der Sonne schneiden den Raum in dünne, fast transparente Schichten. Die Nägel sind etwas länger als gestern, etwas länger als letzte Woche, die Linien in der Hand des Mädchens sind die gleichen wie immer. Mitten in der Hand liegt eine Feder und wippt, gepeitscht wie ein Baum draußen auf der ausgetrockneten Ebene der Insel, durch die Feuchtigkeit und die Wärme aus der Hand gekräuselt. Eine Feder, die niemanden mit sich forttragen kann.

Das Mädchen öffnet die Augen und sieht zu seinem Vater auf. Er spürt den Blick seiner Tochter stechend auf seiner Haut wie die Sonne, und wieder denkt er an das, was plötzlich so wichtig erscheint: Wir müssen glauben, dass unsere Eltern nur das Beste für uns wollen. Er bewegt seine Augen nicht von der Hand des Mädchens weg. Die Hand liegt auf dem Bett und leuchtet. Die Feder in der Hand leuchtet.

Ich kann dich hier rausholen, flüstert der Vater seiner Tochter zu. Sie schließt ihre Hand um die Feder. Und er sieht nach unten auf das Gesicht seiner Tochter, und seine Tochter hebt ihr Gesicht zu ihrem Vater, wie man sein Gesicht zur Sonne im April hebt oder wie man es zu Boden wendet, wenn man im Schnee vorwärtsgeht.

Federn und Wachs und Faden

Der Vater steht auf, geht durch den Raum. Die Sonne strahlt in den Raum hinein wie ein Schwert in einer Säbelkiste. Das Mädchen folgt ihm. Die Strahlen sind rostig, blutbespritzt, als sie das Gesicht des Mädchens erreichen. Heute reisen wir, sagt er zu seiner Tochter hinter ihm.

Die Tochter antwortet ihm nicht, schließt einfach wieder die Hand und drückt die Feder. Federn und Wachs und Faden. Sie ist die Tochter ihres Vaters, kein Kind und kein Erwachsener. Sie ist im mythologischen Sommer, dem mythologischen Keil aus Licht und Sand und dem Geruch von warmer Haut, wie unter der Brust einer Amme. Heute müssen sie weg, jeder für sich. Wir müssen daran glauben, dass die Sonne das Beste für uns will.

Sie stehen auf dem Balkon in der harten Sonne. Das Meer braust unter ihnen und ist grau, als ob die Wellen die Felsen in Stücke schlagen, indem sie sich ihren Weg in sie hineinfressen. Streck deinen Arm aus, sagt der Vater. Das Mädchen steht in einer weißen Bluse, sie hat einen Glitzerschmetterling auf der Brust, es ist die schönste, die sie hat. Sie streckt ihre Arme aus.

Der Vater wickelt den Faden um ihre Schulter und ein wenig nach unten den Arm entlang, zieht eine Reihe Schwungfedern auf den Draht und wickelt sie fest an den Arm. Befestigt sie. Dann gibt er Wachs auf die Federn, befestigt mehr Federn an den Federn, legt eine neue Schicht Wachs darauf und befestigt eine neue Schicht Federn. Seine Hände zittern. Das Mädchen kaut Kaugummi. Das stille Kauen ist ein Tierherz, das frei in einer offenen Brust liegt. Das Herz in der Brust pumpt unter der Sonne.

Der Vater will zuletzt einige Federn an die Hände der Tochter heften. Er bittet sie, ihre Hände zu öffnen. Sie zögert. Muss ich, fragt sie sanft, wie wenn man leise über ein schlafendes Kind hinweg spricht. Der Vater nickt, und obwohl das Mädchen ihn nicht sehen kann, weil er mit Gesicht und Rücken zum Meer gewandt steht, kennt sie die Antwort und lässt los. Die weiße Feder fällt aus ihrer Hand und schwebt nach unten, entlang ihres Körper, landet auf dem Marmorboden, wo sie sich leicht auf die grau-weiße Haut des Marmors legt, wie wenn man versucht, auf dem Meer zu liegen.

Details und Komplexität

Jeder Mythos ist gleichzeitig eine schicksalsschwangere Falle und eine Öffnung hinein in einen größeren Raum. Den Raum erweitern wir durch kritisches Denken, durch Poesie und Reflexion. In die Falle gehen wir, wenn wir den Mythos als Betäubung und als Argument für ein weiterhin zurückgelehntes Insistieren benutzen, dass wir alles im Griff haben. Eine mythische Erzählung lockt damit, privilegiert zu sein durch die Norm oder Wahrheit, die "aus ihr leuchtet".

Es gibt etwas im Mythos, das die Details und die Komplexität verdrängt, er widerspricht sich selbst nicht, und erfordert daher in besonderem Maße den Widerspruch und die Nuancierung, die so notwendig sind und die dem verführten oder ängstlichen Menschen so schwerfallen. Daher bieten wir den Mythen nicht den Widerstand, den sie benötigen, und aus demselben Grund fallen sie nie vor unseren Augen zusammen. Stattdessen bewegen sich diese privilegierten Erzählungen wie Zombies vorwärts durch die Zeit, unantastbar.

Die Mythen können genutzt werden als Anlass für kritisches Denken oder für das genaue Gegenteil – als eine bequeme Ausrede dafür, nicht zu denken. Wir kennen das Problem vielleicht am besten aus der Familie. Jede Familie hat ihre gemeinsam angenommenen Erzählungen, die man bei jeder Gelegenheit wieder abstaubt, indem man einfach die Geschichte wiederholt.

Die Verweise werden immer subtiler und impliziter, schließlich muss man nur ein Wort sagen und versteht. Jedes einzelne Kind, ein jeder junge Mensch muss den größten Teil seines Lebens damit verbringen, diesen Erzählungen zu widersprechen, sein Recht in Anspruch zu nehmen, zu nuancieren und Fragen zu stellen am Ausgangspunkt dieser Erzählungen. Der Ausgangspunkt für und die Perspektive in diesen Erzählungen.

Die Erzählung meiner eigenen Familie über mich war lange Zeit, dass ich zu zerbrechlich war für diese Welt, dass ich zugrunde gehen würde, wenn nicht jemand auf mich aufpasst, eine Mutter oder später ein Mann. Und lange Zeit sah es auch so aus, lange war es möglicherweise auch wahr, doch niemand stellte die Erzählung infrage, weil sie eine Reihe von Problemen sehr effizient löste.

Bedürfnisse und Wünsche

Sie befriedigte die mehr oder weniger erkannten Bedürfnisse und Wünsche einer Reihe von Menschen. Und für mich repräsentierte sie eine solide Identität, die mitten in den ersten existenziellen Erfahrungen der Unbeständigkeit aller Dinge und der instabilen Natur der Gefühle sehr verlockend wirkte.

Eine Abkürzung zu einer Identität, die man als junger Mensch in einem schönen Paket zu bekommen erträumt, wie eine Puppe, deren Glieder an einem Pappkarton mit einem gemalten Horizont mit kleinen Metalldrähten befestigt sind. Eine Anordnung, die zu jeder Zeit die Puppe wie ein Mädchen aussehen lässt, das aufrecht steht, egal ob man es auf den Kopf stellt oder in die Luft wirft.

Die Erzählung hält die Welt um sich herum an ihrem Platz und das Individuum fixiert in etwas, das einer stabilen Identität ähnelt, gleichzeitig hält die Erzählung auch jene zwei Dinge auseinander: die Welt und mich. Vor diesem Hintergrund hat es lange gedauert, bis ich die Erzählung infrage zu stellen wagte.

Die Probleme Europas werden in diesen Jahren in Bildern und Sprachen ausgedrückt, die jenen der Mythen gleichen. Menschen, die gemeinsam gehen, werden zu Strömen oder Horden und eben gerade nicht zu Individuen oder Menschen.

Nationale und religiöse Identitäten werden hervorgezogen wie große weiße Leinwände, deren Hauptmerkmal es ist, jeden in ihrer Nähe zu blenden, damit man die Nuancen nicht erkennen kann. "Wir Dänen", "ihr Muslime", "wir Europäer". Ich glaube, dass dieses Problem strukturell gesehen das gleiche ist wie in der Familie, im Privatleben und in den Gesellschaften – so wie ich auch glaube, dass dieselbe Kur in allen Fällen gilt: Nuancierung durch Konkretisierung.

Man muss die Erzählungen konkretisieren, durch die wir die Welt sehen. Wir müssen die Frage stellen, was Zerbrechlichkeit ist. Wir müssen fragen, welche Stärken in Empfindsamkeit liegen können. Wie müssen fragen, was "Frankreichs Seele" ist – ein Kochbuch, Freiheit, Pernod? Was ist es genau, das wir vor uns sehen, wenn wir von Europäern sprechen?

Wir müssen uns fragen, was das genau ist, wovor wir Angst haben, wenn wir sagen, dass die Wohlfahrtsstaaten den Flüchtlingsdruck nicht bewältigen können. Wie werden wir genau zusammenbrechen, unter welchem Gewicht und wann? Das ist der einzige Weg, wie man sich selbst entgegenkommen und seine eigenen Ängste ernst nehmen kann.

Persönliche Angelegenheit

Als Pia Kjærsgaard (Dansk Folkeparti) im Jahr 2014 gebeten wurde, zu erklären, was dänisch zu sein bedeutet, sagte sie: "Das hat man in meiner Kindheit und Jugend nie gefragt, damals war man einfach dänisch. Wohlfahrt ist wichtig, das sind aber auch die Jahreszeiten, die Natur, es sind die neuen Kartoffeln, Erdbeeren mit Sahne und die jütländische Westküste." Und: "Dänisch zu sein ist etwas, das man in sich selbst fühlt. Es ist schwierig zu definieren, aber es ist ein Gefühl davon, dass ich froh bin, dänisch zu sein, und vielleicht nicht so froh über Pakistan und Rumänien."

Das Zitat ist beispielhaft in seiner Demonstration des Problems mit einem mythologischen Umgang mit so etwas wie nationaler Identität. Es zeigt, dass es absurd ist, Identität zu definieren als a) etwas Stabiles und b) etwas Gemeinsames. Es ist und bleibt eine persönliche Angelegenheit, aus der man nicht eine allgemeine Regel oder ein Gesetz wofür auch immer ableiten kann.

Eine nationale Identität kann nicht darin ausgestanzt werden, ob man Erdbeeren mag oder das Privileg hatte, neue Kartoffeln zu kosten. Dänisch zu sein kann immer nur etwas mit der Staatsbürgerschaft zu tun haben. Dänisch ist jeder, der einen dänischen Pass hat. Und mit der gleichen Gültigkeit können wir uns dänisch fühlen, und mit gleichem Gewicht sind wir daran beteiligt, zu definieren, was es bedeutet, dänisch zu sein.

Eine nationale Identität kann nie etwas anderes sein als die Summe der Identitäten der dänischen Staatsbürger. Etwas, das wieder so instabil ist, wie nur irgendetwas sein kann. Im Gegensatz zur Staatsbürgerschaft.

Wem gehören die Erdbeeren?

Umgekehrt muss man ja die Aussage von Pia Kjærsgaard willkommen heißen: Denn es ist ja wirklich fein, die Karten auf den Tisch gelegt zu bekommen. Erdbeeren und Kartoffeln und Jahreszeiten und ein Gefühl im Bauch. Wenn wir konkret werden, bekommen wir die Gelegenheit, zu erfahren, wie zufällig dieses abstrakte Gefühl beschaffen ist. Wie privat das Gefühl ist.

Paradoxerweise geschieht es genau dadurch, dass man dem einzelnen Bürger die Frage stellt, die hier Pia Kjærsgaard gestellt wurde, dass man entdeckt, wie alles miteinander verbunden ist. Nationen, Kulturen und Gesellschaft, Menschen. Denn wem gehören die Erdbeeren? Woher kommt jetzt die Kartoffel, war das nicht aus Spanien und so weiter?

Und vielleicht werden wir dann daran erinnert, dass es Gedanken gibt, Erfahrungen, Probleme, die nationale Grenzen überschreiten. Es gibt Pflanzen, die ursprünglich aus anderen Ländern kommen als jenem, in dem sie jetzt nationale Symbole sind.

Europa ist eine starke Erzählung, und es fordert von uns, dass wir ständig einen neuen kritischen Blick auf diese Erzählung werfen. Europa ist letzten Endes die Europäer. Jene, die einen europäischen Pass haben.

Hinterfragen und kritisch denken

Die Gefahr besteht darin, dass wir es nicht schaffen, unsere Erzählungen über uns selbst und "die anderen" zu nuancieren. Es geht um den Mut, uns selbst und einander zu fragen, was wir genau damit meinen, dänisch zu sein, und was wir mit der europäischen Volksseele meinen.

Und vielleicht noch wichtiger: Wie möchten wir, dass sie in der Zukunft aussieht? Was genau meinen wir, wenn wir sagen, dass wir die Situation dieser Menschen verstehen und bedauern? Was meinen wir genau, wenn wir über die Demokratie als Wert sprechen – sie ist wohl in erster Linie ein parlamentarisches System. Wie genau sehen die Bilder aus, die unsere Angst vor dem "Zusammenbruch unserer Gesellschaft" nähren?

Man könnte sich selbst, als Europäer, fragen, ob es andere Probleme als die Flüchtlinge geben könnte, die vielleicht eine genauso bedeutsame "Bedrohung" sein könnten. Könnte man sich vorstellen, dass Teile des Finanzsektors eine tickende Bombe unter dem Wohlfahrtsstaat sind? Könnte es sein, dass der Mythos von der Notwendigkeit des kontinuierlichen Wachstums eine reellere Herausforderung für Europa ist?

Jede Erzählung, die mythologischen Charakter annimmt, ist verdummend in dem Umfang, wie sie nicht als Anlass genutzt wird, kritisch zu denken. Die Nationalmythen werden missbraucht für Ausgrenzung und Verschanzung, statt als Anlass genommen zu werden, aktiv dazu beizutragen, ein modernes Europa neu zu denken, das zum Glück nie eine Insel wird – weil nicht einmal eine Insel eine Insel ist. (Josefine Klougart, 20.6.2016)