Der Mann im Salz: Martin Kunze hat im Hallstätter Salzbergwerk auf einem Stapel Menschheitsgeschichte Platz genommen und wacht mit MOM über das kulturwissenschaftliche Erbe.

Foto: Werner Dedl

Das kleine Geschäft liegt in einer ruhigen Seitenstraße der Traunseestadt Gmunden. Ein Chesterfield-Sofa aus Keramik steht gleich neben dem Eingang, in der Auslage teilen sich handgefertigte Fliesen den begrenzten Platz mit allerlei gebrannten Figuren. Es ist die kreative Welt von Martin Kunze. 2011 hat der Künstler beschlossen, mit seiner Familie nach Gmunden zu übersiedeln: "Ein Keramikkünstler gehört eben in eine Keramikstadt." Ein breites Lächeln verdrängt zumindest für einen Augenblick den Vollbart im Künstlergesicht. Martin Kunze scheint zufrieden in seiner zerbrechlichen Welt. Und doch taucht der Künstler regelmäßig ab – in eine dunkle, verborgene Welt.

Am Ende des Datenhighways

"Typisches Hallstatt-Wetter" – Martin Kunze stellt den Kragen seiner dicken Jacke auf. Der Nebel hängt schwer über dem Weltkulturerbe-Ort. Der sonst so atemberaubende Ausblick von der Aussichtsplattform beim Rudolfsturm bleibt Besuchern an diesem verhangenen Sommernachmittag verwehrt.

Doch Kunze geht den geschichtsträchtigen Weg in Richtung Salzberg ohnehin stets abseits der touristischen Pfade. Der Diplomkeramiker denkt hier an den Toren zum ältesten Bergwerk der Welt in einer anderen Zeitdimension. "All unser Wissen, unsere Erinnerungen, unsere Erlebnisse werden heute auf elektronischen Informationsträgern gespeichert. Schon nach ein paar Jahren oder Jahrzehnten sind diese Informationen oft nicht mehr lesbar – bedingt durch Formatänderungen, technische Änderungen und die Kurzlebigkeit von CDs und DVDs."

Kunze greift in seine Jackentasche und fischt ein Token aus Keramik heraus. Beidseitig ist es mit einer speziellen Gravur versehen. Ein näherer Blick und eine kurze künstlerische Erklärung offenbaren die Umrisse des Hallstätter Sees einerseits und die Koordinaten des Salzbergs andererseits. Es ist die Schatzkarte zu einem einzigartigen kunstwissenschaftlichen Projekt tief im Inneren des Berges.

"Zeitkapsel"

Mit "MOM – Memory of Mankind" entwickelt Martin Kunze hier "die größte Zeitkapsel der Menschheit". Was nach Fortschritt klingt, ist streng genommen eigentlich ein Rückschritt: Kunze knüpft mit MOM ganz an den Beginn der Überlieferungstechniken an: Texte und Bilder werden auf 20 mal 20 Zentimeter große und extrem widerstandsfähige Keramikplatten geprägt und tief im Inneren des Salzstollens eingelagert. Und sollen dort Jahrtausende überdauern.

"Schon in 1.000 Jahren wird von unserer Zeit nicht viel mehr übrig sein als Grabsteine, ein paar Denkmäler und vielleicht noch Kanalrohre mit Logo und Seriennummer. Und schon unsere Enkel werden von uns weniger Fotografien besitzen als wir von unseren Großeltern", begründet Kunze im STANDARD-Gespräch seine salzigen Archivierungsarbeiten.

Und wer das Bedürfnis hat, der Nachwelt besonders viel zu hinterlassen, kann beruhigt sein: Platz ist auf den Keramiktagebüchern, eine Tafel samt Duplikat und Token kostet 300 Euro, ausreichend vorhanden. 35.000 Zeichen mittels herkömmlichen Farbdrucks und gar fünf Millionen Zeichen – was einem 400-Seiten-Buch entspricht – dank Keramik-Mikrofilmtechnik.

Michael Kunze hat mittlerweile auf dem Grubenhunt Platz genommen. Künftigen Besuchern seien hier gleich vorweg zwei Dinge geraten: warme Kleidung und während der Fahrt ruhig zu sitzen – der enge Stollen lässt nämlich wenig verletzungsfreien Bewegungsspielraum. Nach gut zehn Minuten Fahrtzeit offenbart sich dann 400 Meter unter Tage das analoge Archiv der Menschheitsgeschichte. Der (hoffentlich) ewige Kontrapunkt zur schnelllebigen und wenig nachhaltigen Datenwelt ist ein Stapel gelber Keramikkisten mit auffallendem MOM-Logo. Darin befinden sich rund 400 Keramiktafeln, fein säuberlich geschlichtet. Ein Griff ins Archiv wirft aber auch durchaus Fragen auf. Eine Hochzeitstafel? Flottes Liedgut vom "Schwanerer Stammtisch"? Ein Kochrezept? Sind dies tatsächlich Informationen, die die Nachwelt braucht? Kunze: "Selbst die Belanglosigkeiten haben doch einen wissenschaftlichen Wert. Wenn da 10.000 Hochzeiten drinnen sind, zeigt es, wie wichtig uns Hochzeiten sind. Was auch eine gewisse Metainformation über uns ist. Und es hilft Linguisten, unsere Sprache zu verstehen."

Caravaggio im Stollen

Und doch ist der Keramikkünstler sichtlich bemüht, sein Projekt rasch aus dem Halligalli-Geschenke-Eck für Selbstverliebte zu holen. "Mit den privaten Tafeln soll der wissenschaftliche Bereich finanziert werden. Und tatsächlich finden sich in den gelben Erinnerungskisten auch etliche Stücke mit wissenschaftlichem Hintergrund. Das Kunsthistorische Museum hat einen Abdruck der "Rosenkranzmadonna" von Caravaggio eingelagert, dem Naturhistorischen Museum ist die Blaue Schwimmkrabbe eine Keramiküberlieferung wert. Insgesamt hat das Naturhistorische Museum rund 100 Exponate drucken lassen, im Kunsthistorischen Museum steht man bei rund 30 Stück.

Kunze widmet sich mit seinem Projekt aber auch den weniger freudigen Hinterlassenschaften der Menschheitsgeschichte. Konkret ist der Keramiker im Gespräch mit der schwedischen Atombehörde. "MOM bietet die Möglichkeiten, Lagerstätten von toxischem und nuklearem Müll für nachfolgende Generationen zu markieren."

Fast zärtlich streicht Martin Kunze beim Reden über das schimmernde Gestein. Der Lagerungsort ist neben den Tafeln eigentlich Kern des Projekts: "Aus geologischer Sicht ist der Platz ideal. Salzvorkommen sind vor Wasser geschützt, und Salz erzeugt im Gegensatz zu Stein keine großen Scherdrucke."

Was im Berg ist, bleibt dort

Das die Keramikplatten umgebende Salz reagiere wie Plastilin. Kunze: "Es bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von gut einem Zentimeter pro Jahr und wird das Archiv in ein paar Jahrzehnten komplett umschlossen haben." Wobei: Nachbessern ist auch vorher nicht möglich. "Was einmal im Berg ist, bleibt auch so dort. Änderungen gibt's nicht."

Bleibt letztlich eine Frage: Was, wenn in 1.000 Jahren MOM niemand findet? Kunze: "Eine Zivilisation, die sich auf einem ähnlichen technischen Stand wie wir befindet, wird auch fündig werden." (Markus Rohrhofer, 21.6.2016)