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Wie wir Wahrnehmungen im Gehirn verarbeiten, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab – von Objektivität kann keine Rede sein.

Foto: Reuters/MICHAELA REHLE

Was man selbst gehört, gesehen oder erlebt hat, dem kann man vertrauen! Unsere Sinne sind die zuverlässigsten Informationsquellen über die Welt. Nichts geht über den gesunden Menschenverstand! Oder? Von all dem Schmarrn, den ich bis jetzt in diesem Blog behandelt habe, ist das vielleicht der größte: der Glaube, wir wären in der Lage, die Welt objektiv mit unseren Sinnen zu verstehen.

Psychologie und Kognitionswissenschaft sind voll mit Phänomenen, die uns das Gegenteil zeigen. Zum Beispiel das "Priming": Wie wir einen äußeren Reiz verarbeiten, hängt sehr stark davon ab, ob und wie stark vorher stattgefundene Reize unser Gedächtnis beeinflusst und aktiviert haben. Eigentlich neutrale Aussagen bewerten wir zum Beispiel viel ablehnender, wenn wir zuvor – bewusst oder unbewusst – "feindseligen" Wörtern ("unfreundlich", "beleidigend" et cetera), Bildern oder Gedanken ausgesetzt worden sind.

Unbewusst beeinflusst

Eine Studie aus dem Jahr 2013 hat 240 sechsjährige Kinder untersucht. Sie wurden in Gruppen eingeteilt und sollten Bilder ausmalen, die entweder ein Mädchen zeigten, das ein mathematisches Problem löst, oder einen Buben bei der gleichen Aufgabe, während das Mädchen nur zusieht. (Eine Kontrollgruppe erhielt ein neutrales Bild.) Danach sollten die Kinder selbst einfache mathematische Rechnungen anstellen. Die Mädchen, die zuvor mit dem stereotypen Bild des nur zusehenden Mädchens konfrontiert worden waren, schnitten dann auch tatsächlich schlechter ab und waren langsamer als die Kinder der anderen Gruppe.

Der gleiche Effekt existiert auch bei Online-Zeitungen und Blogs. In einer Studie aus dem Jahr 2014 wurde gezeigt, dass die Glaubwürdigkeit eines Textes um so geringer eingeschätzt wird, je aggressiver und beleidigender die Diskussionen der Kommentatoren über diesen Artikeln waren.

Unverlässliche Eindrücke

Wir mögen vielleicht denken, dass unsere Ansichten und Entscheidungen auf rationalen Überlegungen basieren. Aber nur weil es sich so anfühlt, als würden wir das tun, entspricht es nur selten der Wahrheit. Unsere Sinneseindrücke sind alles andere als verlässlich. Es gibt Wahrnehmungsfehler, Konfabulation, optische, akustische und haptische Täuschungen, Bestätigungs- und Rückschaufehler, Erinnerungsverfälschung und Pseudoerinnerungen: Medizin, Psychologie und Neurophysiologie haben in den letzten Jahrzehnten mehr als deutlich gezeigt, dass wir uns auf unsere Sinne nicht verlassen können.

Zumindest dann nicht, wenn es darum geht, nachhaltige und objektive Informationen über die Realität zu gewinnen. Darum geht es ja unter anderem in der Wissenschaft, und genau darum ist die wissenschaftliche Methode ja auch oft so umständlich und kompliziert. Darum spielt auch die Mathematik so eine enorm wichtige Rolle. Wissenschaft braucht die neutrale und abstrakte Sprache der Mathematik und die leider für uns Menschen nicht intuitiv verständlichen Aussagen der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, um trotz unserer unzuverlässigen Sinne zuverlässige Resultate zu erhalten.

Wissenschaft braucht den ständigen Konflikt, ja, sogar den Streit unter Wissenschaftern. Es braucht das wechselseitige Anzweifeln von Methoden und Resultaten, den Peer-Review-Prozess der Publikationen vor der Veröffentlichung und all die anderen Mechanismen, die sich im Lauf der Zeit entwickelt haben, um dem "gesunden Menschenverstand" etwas entgegenzusetzen.

Wissenschaft schafft Abhilfe

Unsere unzuverlässigen Sinne sind hinterhältig. Es nützt uns nicht einmal etwas, wenn wir über all die psychologischen Effekte Bescheid wissen. Jeder Mensch ist davon betroffen, egal ob man sich der Probleme bewusst ist oder nicht. Egal ob man sich einredet, man wäre anders/besser/vorsichtiger oder nicht. Als Individuen besitzen wir alle viel weniger Kontrolle über unsere Sinne, als wir denken oder uns wünschen. Aber genau dafür gibt es ja die Wissenschaft. Gemeinsam und mit ausreichend Regeln und Kontrollmechanismen funktioniert die Sache mit der Erkenntnis der Welt dann doch ganz gut.

Die wissenschaftliche Methode ist nicht perfekt. Das kann sie nicht sein, denn Wissenschaft wird von Menschen betrieben. Wissenschaft hat in der Vergangenheit Fehler gemacht und wird das auch in Zukunft tun. Aber sie ist immer noch die beste Möglichkeit, Antworten auf all die vielen offenen Fragen zu finden, die die Welt für uns bereithält. (Florian Freistetter, 21.6.2016)