Ein altes Wirtshaus in Wien-Wieden wurde zum derzeit wohl tollsten Restaurant der Stadt.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Scholle wird gedämpft und mit Karotte in dreierlei Aggregatszuständen kombiniert.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Ein guter Koch, der sein eigenes Lokal aufmacht: Man sollte meinen, das sei der normale Lauf der Dinge. Nicht in Wien: Absurd hohe Ablösen, die Gefahr, bei der Anlagenbewilligung mit Nachforderungen der schikanösen Art konfrontiert zu werden und andere von Staatsseite verordnete Hemmnisse machen es ambitionierten Köchen zusehends unmöglich, sich in die Selbstverantwortung zu wagen.

Dennoch haben Oliver Lucas und seine Frau Petra jetzt das Grace aufgesperrt. Wenn man aus der Performance der ersten Wochen schließt, dürfte es das tollste Restaurant seit langer Zeit werden. Lucas ist Londoner und promovierter Literaturwissenschafter; vor zehn Jahren fing er im Steirereck an, stieg zum Sous-Chef auf, der die Küche schupfte, wann immer der Chef anderswo gefragt war (also ziemlich oft). Auch die Speisekarte des Steirerecks trägt bis heute in wesentlichen Punkten Lucas' Handschrift.

Kleine Karte, kleine Preise

Mit dem Gasthaus Weidinger, einer legendären Schnitzelhütte im vierten Bezirk, hat das Paar Glück gehabt: bestehende Betriebsanlagengenehmigung, bezaubernder Hofgarten mit alten Bäumen und verwunschenem Salettl, Gasträume, die mit Gespür in Richtung Restaurant gedreht wurden. Und Lucas' Küche, die sich (ganz ähnlich jener des Steirerecks) auf dem Teller nicht mittels Komplikation und architektonischer Kraftakte zu manifestieren sucht, sondern ihre Souveränität still ausspielt.

Die Speisekarte ist mit gerade einmal acht Positionen (inklusive Desserts!) ziemlich mini, dafür soll häufig variiert werden. Wer alles bestellt, zahlt 88 Euro, die Hälfte (vier Gänge) kostet 48 Euro – für wirklich große Küche ist das schon gefährlich wenig. Vor allem, weil es derzeit kaum jemanden gibt, der Lucas in der Stadt das Wasser reichen kann.

Das beginnt schon beim Brot: An Naan-Brot erinnernde Dinkelfladen mit Fenchelsamen, brennheiß, knusprig, flaumig, dazu gibt es dreierlei Gemüsedips – so köstlich und vielschichtig, dass man verdammt aufpassen muss, sich nicht schon damit anzuessen. Kürbis mit Paradeisern, Lavendel und Liebstöckel ist eine Vorspeise, die die Nähe zum Steirereck nicht verheimlichen kann: erfrischend, knackig, duftig, gleichzeitig aber auch extrem vielschichtig und animierend – eine fantastische Kreation aus ganz bescheidenen Zutaten, mit Feinsinn und Eleganz auf den Teller gebracht.

Schockierend gut

Der letzte Spargel der Saison wird zu einem Rohkostsalat mit in Earl Grey marinierter Grapefruit, karamellisierten Nüssen und frischem Schafskäse zusammengefügt: tolle Bitterkontraste, extreme Leichtigkeit, in seiner knackigen Frische geradezu schockierend gut. Scholle (im Bild die Version aus dem Acht-Gänge-Menü) wird gedämpft und mit Karotte in dreierlei Aggregatszuständen kombiniert, geröstete Kokosnuss und Ingwer sorgen bei diesem puristischen, konzentrierten Gang für wohligen Nachhall am Gaumen.

Erst dann gibt es Fleisch. Das wird stets in zwei Gängen serviert – derlei Freundlichkeit verschweigt die Karte ebenso elegant wie selbstverständlich. Perlhuhn etwa kommt einerseits knusprig an der Haut gebraten mit Eierschwammerln und Erbsen zu Tisch – eine wunderbare Spannung entsteht da aus dem Zusammenspiel von frischer Säure, Röstnoten, Waldbodenaromen: Gerichte wie dieses haben die seltene Kraft, einem noch Tage später präsent zu sein.

Danach gibt es eine nostalgische Verneigung vor der klassisch großen Küche: Vol-au-vent aus Blätterteig mit hellem Ragout vom Hendlhaxl, unheimlich mollig, wohltuend, zart gewoben. Fazit: Mehr Freude wird einem auf dem Teller derzeit nirgendwo gemacht, schon gar um diesen Preis. Hingehen, freuen, danke sagen! (Severin Corti, RONDO, 24.6.2016)