Jubel hat es bei den britischen EU-Gegnern über das Ergebnis des Brexit-Referendums gegeben. Der EU-Parlamentarier und Chef der Unabhängigkeitspartei Ukip, Nigel Farage, sprach von einem "Sieg für wirkliche Menschen, für normale Menschen, für anständige Menschen".

Man könne nun davon träumen, dass "die Morgendämmerung für ein unabhängiges Großbritannien angebrochen ist. Wenn die Voraussagen richtig sind, ist das ein Sieg für das Volk. Wir haben gegen die Multinationalen gekämpft. Wir haben gegen Lügen und Täuschungen gekämpft." Großbritannien brauche nun "eine Brexit-Regierung", erklärte der Ukip-Chef. "Wir haben eine scheiternde politische Union zurückgelassen."

Entsetzt zeigten sich dagegen laut "Politico" die britischen Sozialdemokraten. "Es ist ein schrecklicher Tag für Großbritannien und ein schrecklicher Tag für Europa", sagte Keith Vaz von der Labour-Partei.

Schottland will in EU bleiben

Schottlands führende Politiker wollen das Land in der EU halten. Das Ergebnis der Abstimmung mache klar, "dass das Volk Schottlands seine Zukunft als Teil der Europäischen Union sieht", sagte Regierungschefin Nicola Sturgeon. Die schottischen Wähler hatten sich in allen Wahlkreisen für einen Verbleib ausgesprochen. Sturgeon werde "wahrscheinlich am Freitag eine Sitzung einberufen, das Parlament könnte am Sonntag tagen, und sie wird ein Verhandlungsmandat fordern, um die Position Schottlands im gemeinsamen europäischen Markt sicherzustellen".

Auch der frühere schottische Regierungschef Alex Salmond will sich mit einem Brexit nicht abfinden. Er wolle, dass Schottland in der EU bleibt, sagte er der belgischen Zeitung "Le Soir".

Sinn Féin will Wiedervereinigung Irlands

Die irisch-nationalistische Sinn Féin fordert nach dem Referendum eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands. Das sei ein "demokratisches Gebot", sollte Nordirland für einen Verbleib in der EU gestimmt haben. "Die britische Regierung hat jedes Mandat verloren, die Interessen der Menschen in Nordirland zu vertreten", zitierte die "Irish Times" den Sinn-Féin-Vorsitzenden Declan Kearney. Nordirland hat der BBC zufolge mit 55,7 Prozent für einen Verbleib in der EU gestimmt.

Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster wies die Idee eines Austritts umgehend zurück. Ein Referendum für ein vereinigtes Irland wäre niemals erfolgreich, sagte die Erste Ministerin.

Rechtspopulisten fordern weitere Referenden

FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und Generalsekretär Harald Vilimsky forderten unterdessen den Rückzug von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Diese stünden für die "Fleisch gewordene Fehlentwicklung" in Europa. "Sollte jedoch die EU an ihrer Reformunwilligkeit weiter erlahmen und auch noch Länder wie die Türkei hereinholen, dann ist auch für Österreich eine Abstimmung über den weiteren Verbleib in der EU eine politische Zielerklärung", erklärten Strache und Vilimsky.

Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders forderte auch in den Niederlanden eine Volksabstimmung. "Die Niederländer haben auch das Recht auf ein Referendum", erklärte der Vorsitzende der Partei für die Freiheit am Freitag. Wilders Partei fordere "ein Referendum über den Nexit, einen niederländischen Austritt aus der EU".

Auch die Chefin von Frankreichs rechtsextremem Front National, Marine Le Pen, verlangte weitere Abstimmungen in den Mitgliedsstaaten. "Sieg der Freiheit!", schrieb Le Pen Freitagfrüh auf Twitter. "Wie ich es seit Jahren fordere, brauchen wir jetzt dasselbe Referendum in Frankreich und in den Ländern der EU."

Zuvor hatte bereits ihre Nichte Marion Le Pen, Abgeordnete der Nationalversammlung, von einem "Franxit" gesprochen: "Es ist jetzt an der Zeit, die Demokratie in unser Land zu importieren."

Auch die europakritische italienische Oppositionspartei Lega Nord begrüßte den Ausgang des Referendums. "Es lebe der Mut der freien Briten. Herz, Verstand und Stolz besiegen die Lügen, Drohungen und Erpressungen. Danke, UK, jetzt kommen wir dran", schrieb Lega Nord-Chef Matteo Salvini auf Facebook.

Türkei reagiert mit Schadenfreude

Türkische Regierungspolitiker reagierten zum Teil zufrieden und mit Schadenfreude auf das mehrheitliche Nein der Briten. "Der Zerfall der Europäischen Union hat begonnen. England ist das erste Land, das das Schiff verlässt", twitterte der stellvertretende Regierungschef Nurettin Canikli. "Europa wird sich selbst auffressen", schrieb Melih Gökçek, der für seine aggressiven Medienkampagnen bekannte Bürgermeister von Ankara. Wirtschaftsminister Mehmet Şimşek gab ebenfalls auf Twitter einen zweideutigen Kommentar ab: "Man will die Büchse der Pandora besser nicht öffnen... oh, aber sie ist schon offen."

Offen ist im Moment auch, ob der türkische Staatspräsident Tayyip Erdogan nun mit seinem diese Woche angekündigten Referendum über den Ausstieg aus den Beitrittsverhandlungen wahr macht. In einer Rede am vergangenen Mittwoch hatte Erdogan seinen Zuhörern auch mit ironischem Unterton versichert, die Briten würden – ungeachtet der antitürkischen Kampagne der EU-Gegner – nicht für den Austritt stimmen. Europaminister Ömer Celik wurde am Freitag in den türkischen Medien mit Aussagen zitiert, die er vor Bekanntwerden des britischen Ergebnisses machte. Europa könne ohne die Türkei nicht die globale Krise meistern, sagte Celik und: "Selbst wenn wir nicht EU-Mitglied werden, sind wir eine große Macht in Europa."

Wie anderswo auch eröffnete die Börse in Istanbul mit einem Kurssturz. Die türkische Lira gab wie von Analysten erwartet gegenüber dem Dollar nach und näherte sich der Drei-Lira-Marke; gegenüber dem Euro verlor die Lira nur leicht, sie stand zwischenzeitlich bei 3,26. Türkische Ökonomen bekräftigten ihre Einschätzung, der Austritt Großbritanniens habe zunächst negative Folgen für den Export. Nach Deutschland ist Großbritannien der größte Absatzmarkt in der EU für türkische Produkte.

Hollande rief Regierungssitzung ein

Der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault erklärte, der Ausgang des Referendums sei "traurig für Großbritannien". Europa werde weitermachen, aber es müsse reagieren, um das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen.

Frankreichs Präsident François Hollande berief umgehend eine Regierungssitzung ein. Das Kabinett werde um 9 Uhr zusammenkommen, teilte der Präsidentenpalast am Freitag mit. Anschließend werde Hollande eine Stellungnahme abgeben.

Kurz: "Kein Stein wird auf dem anderen bleiben"

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich im Ö1-"Morgenjournal" schockiert und überrascht. Wenn eines der größten Mitgliedsländer aus der EU austrete, könne "kein Stein auf dem anderen bleiben". Die Abstimmung sei "definitiv ein Erdbeben".

"Die EU wird überleben", sagte Kurz. Sie müsse sich aber schnell neu aufstellen, wenn sich ein solches Referendum nicht in einem anderen EU-Land wiederholen solle. In der EU werde sich sehr viel ändern müssen, Tempo und Ausmaß dieser Veränderung müssten "enorm" sein. Die EU müsse ihre zentralen Probleme lösen, etwa bei der Migration. "Ein Dominoeffekt auf andere Länder ist nicht auszuschließen", prophezeite Kurz.

Schulz: "Keine Kettenreaktion"

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, rechnet hingegen nicht mit einer Kettenreaktion in anderen EU-Staaten. "Die Kettenreaktion, die wird es auch gar nicht geben", sagte er am Freitag dem ZDF vor einem Telefonat mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Er gehe davon aus, dass die Trennungsverhandlungen sehr rasch beginnen. Er sei auch "nicht geschockt" und habe einen solchen Ausgang schon einkalkuliert. "Wir haben uns auch darauf vorbereitet."

"David Cameron hat eine große Verantwortung auf sich geladen, auf sich und sein Land", sagte Schulz. Großbritannien stehe vor einem "sehr schweren Weg" und einer Phase der Unsicherheit. Es müsse nun darum gehen, dass der Euro nicht ähnlich stark abstürzt wie das britische Pfund.

Kern: "Kein Referendum in Österreich"

"Das ist kein guter Tag für Großbritannien, kein guter Tag für Europa, aber auch kein guter Tag für unser Land", sagte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ). Europa werde an Stellung und Bedeutung in der Welt verlieren. Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen "werden noch geraume Zeit zu spüren sein".

Bundeskanzleramt Oesterreich

Man habe nun die Konsequenzen zu ziehen und die nachteiligen Entwicklungen "so gering wie möglich zu halten". Europa müsse jetzt einen Reformprozess beginnen. "Dieser muss eine klare Richtung haben." Einen Dominoeffekt befürchtet Kern nicht. "Wir werden Österreich mit Sicherheit keinem Referendum aussetzen."

Tusk: "Sind vorbereitet"

"Wir können nicht verheimlichen, dass wir uns ein anderes Ergebnis gewünscht hätten", sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk. Es gebe keine Möglichkeit, alle Konsequenzen des Votums vorherzusagen, vor allem nicht für Großbritannien. "Wir sind vorbereitet auf dieses negative Szenario." Die EU bleibe für die anderen 27 Staaten "der Rahmen für unsere Zukunft". Tusk zufolge gibt es nun "kein rechtliches Vakuum". Das EU-Recht werde bis zum Austritt auch Anwendung auf Großbritannien finden. Alle Austrittsverfahren seien klar im EU-Vertrag festgelegt.

Steinmeier: "Trauriger Tag"

"Die Nachrichten aus Großbritannien sind wahrlich ernüchternd", sagte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier Freitagfrüh. "Es sieht nach einem traurigen Tag für Europa und für Großbritannien aus." Der SPD-Politiker wird am Freitag zu einem EU-Ministertreffen in Luxemburg erwartet, bei dem über die Folgen des Referendums beraten werden soll. Am Samstag kommen in Berlin die Außenminister der sechs EU-Gründerstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder) zusammen.

"Großer Schaden"

Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber, bedauerte das Ergebnis. Es sei "für beide Seiten ein großer Schaden", vor allem aber für Großbritannien, sagte Weber Freitagfrüh. Jedenfalls sei "die Zeit der Rosinenpickerei vorbei".

Europas Grünen-Chef Reinhard Bütikofer erwartet eine drastische Verschärfung der ohnehin schon schwierigen Lage der EU. "Der 23. Juni wird als tiefschwarzer Tag in die Geschichte Europas eingehen", sagte der deutsche EU-Abgeordnete.

Obama: Beratung mit Cameron

US-Präsident Barack Obama will nach Angaben seines Amtes im Lauf des Tages mit dem britischen Premier Cameron über den Ausgang des Referendums beraten.

Der republikanische US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump sieht das Resultat als "großartige Sache". Er hält sich derzeit in Schottland auf, um an der Einweihung eines seiner Golfplätze teilzunehmen. Trump freute sich, dass die Briten die "Kontrolle über ihr Land zurückbekommen" hätten, berichtete der "Guardian". Er hatte sich bereits zuvor mehrmals dafür ausgesprochen, dass die Briten die EU verlassen. (mab, APA, dpa, Reuters, red, 24.6.2016)