EU-Parlamentspräsident Martin Schulz rechnet mit einem raschen Beginn der Austrittsverhandlungen mit Großbritannien. "Wir haben uns auf einen Brexit vorbereitet", sagte Schulz Freitagfrüh im ZDF. Er rechne allerdings nicht damit, dass es nun zu einer Kettenreaktion komme.
Mit "Klarheit und Ruhe", ohne jede Hektik oder voreilige Schritte wollen die EU-Institutionen – Kommission und Parlament – mit den Mitgliedsstaaten den Austritt der Briten abwickeln. Dafür ist gemäß den Vereinbarungen in den EU-Verträgen zwei Jahre Zeit. Gemäß Artikel 50 muss bis spätestens dann eine Austrittsvereinbarung mit der britischen Regierung verhandelt sein.
Klar ist nur das technische und juristische Prozedere, keine Inhalte. Wie man aber alle Rechte und Pflichten Großbritanniens, die Förderprogramme, Regelungen, den Marktzugang und nicht zuletzt die bestehenden Zahlungen beendet und durch neue Beziehungen ersetzt, ist völlig offen. Das Land würde anschließend wie ein Drittland behandelt – wie Schweiz oder der Beitrittskandidat Türkei.
Britische Scheidung
Es gibt keinerlei Erfahrung damit, weil es in der Geschichte der Union bisher nur Annäherung und Integration der Staaten gab. Die britische Regierung muss also um jede bilaterale Vereinbarung kämpfen, so wie die Schweiz, die eine sehr offene Beziehung zur EU pflegt, inklusive offenen Grenzen.
Großbritannien hat als eine der stärksten Wirtschaftsmächte sehr vom Binnenmarkt profitiert, zahlt aber mehr als fünf Milliarden netto in die EU-Kassa ein. Hunderttausende Osteuropäer arbeiten in Großbritannien, zigtausend Studenten besuchen dort Universitäten. Alles das muss – wie bei einer Scheidung – geklärt und aufgelöst werden. Den halben Weg zurück gibt es jedenfalls nicht: "Out ist out", betonte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch.
Cameron kündigt Rücktritt an
Premier David Cameron wandte sich um 9.15 an die Briten und kündigte seinen Rücktritt mit Oktober an. Dann findet der Parteitag der Konservativen statt. Zuvor werde er die EU "umgehend" über die Entscheidung seines Landes informieren und die ersten Schritte der Abwicklung einleiten.
In den Startlöchern für seine Nachfolge stünde bereits der "Gewinner" der Abstimmung, der ehemalige Londoner Bürgermeister und parteiinterne Cameron-Rivale Boris Johnson.
Dutzende Beratungen am Tag X in Brüssel
In Brüssel tagten am Freitag seit 7 Uhr die Spitzen der Fraktionen im EU-Parlament, seit 8 Uhr das Präsidium unter Führung von Parlamentspräsident Schulz. Für 10.30 Uhr hat Juncker zu einem Gespräch mit Schulz, Ratspräsident Donald Tusk und dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte geladen, dessen Land die Ratspräsidentschaft innehat. Wenig später treffen die Außenminister unter anderem von Deutschland und Frankreich zu Beratungen in Luxemburg zusammen.
Sie und die EU-Institutionen werden voraussichtlich Erklärungen veröffentlichen, die drei Kernbotschaften enthalten: erstens ein Bedauern des Ausscheidens jenes Landes, das nach Deutschland die größte Wirtschaftsmacht in der EU und ein militärisches Schwergewicht ist; zweitens den Respekt gegenüber der Entscheidung der britischen Bevölkerung; und drittens die Entschlossenheit, das Projekt EU voranzubringen. Zugleich wird versucht, eine Warnung an andere EU-Staaten zu formulieren: nämlich nicht auf die Idee zu kommen, den gleichen Weg wie die britische Regierung zu beschreiten und mit der Option eines EU-Austritts zu spielen.
Sondertreffen der Kommissionsspitze
Juncker will nach Angaben von EU-Vertretern am Sonntag ein Sondertreffen der Kommissionsspitze einberufen. Ein reguläres Treffen war für Montag geplant. Die Kommission ist dafür zuständig, die Formalitäten der Scheidung zu regeln.
Doch statt eines schriftlichen Notfallplans, der den Weg in die Medien finden könnte, gebe es beim "Brexit" eher einen "Raum B", sagt ein EU-Vertreter. Dort sollten Experten und Juristen Maßnahmen festzurren, die am Montagmorgen präsentiert werden könnten. Denn spätestens nach dem letzten Juni-Wochenende dürften Finanzmärkte und Bürger fragen, wie es mit der EU ohne Großbritannien weitergehen soll.
EU-Gipfel in Brüssel noch mit Cameron
Auch wenn Camerons politische Karriere vorbei sein sollte, dürfte er am traditionellen Abendessen zum Auftakt des Gipfels der 28 Staats- und Regierungschefs noch teilnehmen, da vermutlich noch kein Nachfolger für ihn ernannt sein wird. Cameron könnte dort zudem Ratspräsident Tusk offiziell darüber informieren, dass sein Land nach Artikel 50 der EU-Verträge aus der Union austritt.
Noch ist umstritten, ob Cameron diesen Schritt bereits an jenem Abend geht oder ob die Regierung auf Zeit spielt. Auf der anderen Seite des Tisches wird es wahrscheinlich Staats- und Regierungschefs geben, die einen sofortigen klaren Schnitt wollen, um den Eindruck langer Verhandlungen und Sonderregelungen für die Briten sofort zu unterbinden. Das Reformpaket, das Cameron der EU im Februar abgerungen hat, ist mit dem Brexit vom Tisch.
EU-Vertreter wollen Briten schmerzhaften Abschied bereiten
Generell herrscht bei vielen EU-Verantwortlichen die Einstellung vor, den Briten den Abschied so schmerzhaft wie möglich zu machen, um Nachahmer in anderen Mitgliedsländern abzuschrecken. Die von britischen Brexit-Befürwortern erwarteten Handelserleichterungen soll es jedenfalls nicht auf dem Silbertablett geben. (red, mhe, tom, 24.6.2016)