Ist das nicht Anouk Aimée, so giraffentänzerisch wie in Jacques Demys Lola? Und diese Androgyne, ist das nicht Jean Seberg? Der muskulöse Liebhaber, ähnelt er nicht dem Jean-Paul Belmondo, und der andere nicht Jean-Claude Brialy? Der Künstler, der ein Atelierfest gibt, zu dem lauter Nichteingeladene erscheinen, ist das nicht der von Jess Hahn gespielte Musiker aus Éric Rohmers Im Zeichen des Löwen von 1959?

Tatsächlich stammt der nun erstmals ins Deutsche übersetzte Roman Alle Pferde des Königs der 1932 geborenen Michèle Bernstein aus dem Jahr 1960. Doch als Vorlage für einen Film der Nouvelle Vague eignete er sich gar nicht. Denn er löst sich beim Lesen selber auf. Bernstein lässt mehrfach ihre Protagonisten ganz kühl aus dem Roman heraussagen, dass sich alles darin so anhöre wie in einem Roman.

So griff Bernstein verspielt der verspielten literarischen Postmoderne eines Raymond Federman, Thomas Pynchon, Robert Coover um Jahre voraus. Gilles, Geneviève, Carole, Hélène, Bertrand heißen die Figuren dieser Schwarz-Weiß-Parodie, einerseits auf Choderlos de Laclos' Rokokoverführungsroman Gefährliche Liebschaften, von Roger Vadim 1959 verfilmt mit Jeanne Moreau und Gérard Philipe, andererseits auf mondäne Erfolgsbelletristik à la Françoise Sagan anspielend.

Erotische Wechselspiele, ironische Dialoge

Paris, Künstler, Sportwagen, Nizza, Sonne, Geld ohne Arbeit, erotische Wechselspiele, ironische Dialoge, Michèle Bernstein nimmt alle Motive der späten Fünfziger und frühen Sechziger aus Literatur und Film auf, um mit ihnen geistreich und vergnüglich zu spielen. Schon einigen Zeitgenossen fiel auf, dass sie mit ihrem Fake-Roman das Genre von innen heraus sprengte. Und so ein situationistisches Werk schuf.

Dabei war der Pariser Situationismus ja noch eine poetische Widerstandsbewegung von Revolutionären ohne Stipendienanträge oder Akademiedozenturen, die sich gegen Konsumismus und Kapitalismus wendeten. Dabei Dada wiederauferstehen ließ, diesen mit Anarchismus mischte, mit einem Kommunismus ohne Stalin und einem libertären Marxismus ohne Marx.

Zugleich ist es ein kleiner Schlüsselroman. Hinter den Figuren verbergen sich Bernstein selbst und ihr damaliger Ehemann Guy Debord, der Kopf der Situationistischen Internationale, dieser kleinen Avantgardegruppierung, die für die Revolten der Sechziger wesentlich war. Dass dies eine kalkulierte Provokation der Literaturszene war, bewies Bernstein ein Jahr später, 1961, mit ihrem zweiten (und letzten) Roman La Nuit. Der steckte bereits tief im Vorgänger drin. Buchstäblich. Nahm doch Bernstein den Text von Alle Pferde des Königs – und setzte lediglich alle Verben ins Futur. Und drehte dem angeblich so seriösen Feuilleton fröhlich eine lange Nase. (Alexander Kluy, 25.6.2016)