"Out ist out." Ein Austritt aus der Europäischen Union könne weder teilweise erfolgen noch relativiert werden, "keine Neuverhandlungen" – darauf hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Tag vor dem Referendum beim Besuch von Bundeskanzler Christian Kern in Brüssel hingewiesen. Stimmten die Briten mehrheitlich für "Leave", so sei dafür nach Artikel 50 des EU-Vertrages alles geregelt.
Beide waren da noch überzeugt, dass der Brexit nicht stattfinden würde. Die Briten würden "pragmatisch" handeln. So war auch die Einschätzung in praktisch allen Regierungszentralen der Union und bei den Chefs in den EU-Institutionen. Als das "Undenkbare" Donnerstag in den frühen Morgenstunden dann dennoch eintrat und gewiss war, waren das Entsetzen und die Schockstarre in der EU-Hauptstadt greifbar.
In Luxemburg tagten die EU-Außenminister: "Das ist traurig", war dort ein häufiger Satz, so vom französischen Außenminister Jean-Marc Ayrault, der aber gleich betonte, dass "kein Chaos" herrsche. Österreichs Chefdiplomat Sebastian Kurz befürchtete, dass in Europa "kein Stein auf dem anderen bleiben" werde.
Tatsächlich hat der EU-Austritt Großbritanniens nicht nur intern beträchtliche Auswirkungen. Das gesamte Auftreten der Union in der Welt – politisch und wirtschaftlich – wird sich verändern. Gleich in der Früh hatten sich die Chefs der im EU-Parlament vertretenen acht Fraktionen mit Präsident Martin Schulz zusammengesetzt, um die weitere Strategie zu beraten.
Eurozone rückt zusammen
Ein "sehr trauriger" Schulz trat als Allererster vor die Kameras und gab einen Hinweis, wie es aus Sicht der EU jetzt weitergehe: Das Ergebnis sei zu respektieren. Jetzt gelte es vor allem die EU-Staaten und die Eurozone zu schützen, für Stabilität zu sorgen. Sie sollten bald über Verbesserungen reden. Am Dienstag wird das EU-Parlament zu einer Sondersitzung zusammentreten, unmittelbar vor dem regulären EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs, der von Ratspräsident Donald Tusk organisiert wird. Erste Konsequenz: Erstmals werden die Staats- und Regierungschefs im 27er-Format tagen, ohne den britischen Premier David Cameron. Von diesem hängt ab, wie es nun in den nächsten Tagen und Wochen weitergeht. An sich hatte die Kommission erwartet, dass Cameron bereits am Dienstag den Austrittsantrag stellt. Das will dieser jedoch seinem Nachfolger "in drei Monaten" überlassen. Boris Johnson, der das Amt möglicherweise übernehmen könnte, demonstrierte Gelassenheit. "Es gibt keinen Grund zur Hast", sagte er, auf einen langen Prozess des Abschiedes hindeutend.
Für die EU-Spitzen ist das kein erwünschtes Szenario. Sie wollen, dass der Austrittsprozess möglichst "zügig" über die Bühne geht, wie es in einer gemeinsamen Erklärung von Tusk, Juncker und Schulz hieß: "Wir erwarten von der britischen Regierung, die Entscheidung der britischen Bevölkerung so rasch wie möglich umzusetzen, so schmerzhaft der Prozess auch ist." Jede Verzögerung würde nur die Unsicherheit verlängern.
Wie berichtet, sieht der EU-Vertrag einen Zeitraum von maximal zwei Jahren vor, was angesichts der Komplexität der verflochtenen Beziehungen im Binnenmarkt kurz ist. Die Präsidenten bedauern eine "noch nie da gewesene Situation", man stehe bereit für sofortige Verhandlungen. Kommissionschef Juncker trat dann zu Mittag als Letzter vor die Presse. "Wir müssen jetzt etwas aufs Tempo drücken", sagte er auf den Zeitplan angesprochen, der "Prozess der Ungewissheit" dürfe nicht zu lange dauern. Auf die Frage, ob das Nein der Briten der Anfang vom Ende der EU sein könnte, sagte er nur ein Wort: "Nein".
Was den Umgang mit Großbritannien bis zum endgültigen Scheidungsvertrag betrifft, stellten die Präsidenten klar, dass das Land bis zum Vollzug des Austritts normales Mitglied der Gemeinschaft bleibe, "mit allen Rechten und Pflichten". Negative Folgen für das EU-Budget – Großbritannien ist mit 5,4 Milliarden Euro pro Jahr einer der größten Nettozahler – sind daher bis 2019 kaum zu erwarten. Dann müsste ohnehin der neue Finanzrahmen verhandelt werden.
Indirektes Opfer des Brexit könnte jetzt die Schweiz werden. Das Land muss nach der Volksabstimmung zur Drosselung der Zuwanderung, die der EU-Personenfreizügigkeit widerspricht, neue bilaterale Verträge aushandeln, kann jetzt kaum mit Milde der EU rechnen. (Thomas Mayer aus Brüssel, 24.6.2016)