Nach dem britischen Brexit wird viel über die Frage diskutiert, wo die Gründe für die EU-Ablehnung vieler Menschen in Europa liegen. Denn nicht nur in England und Wales ist die Anti-Unions-Stimmung besonders ausgeprägt. Auch in etlichen anderen Staaten Europas herrschen in der Bevölkerung Meinungen, die für Austritts-Initiativen von Rechtspopulisten und Rechten erfolgversprechend sind.
Was ist los in Europa, dass die EU als gemeinsames wirtschaftliches und als politisches Friedensprojekt so vielen Bürgerinnen und Bürgern feindlich und falsch erscheint? Sodass diese Bürgerinnen und Bürger Politikern wie FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache glauben? Dieser rief Freitagabend im ORF-Fernsehinterview zur "Friedensprojekt"-Verteidigung auf. Die sieht er auch dann gewahrt – oder behauptet das zumindest – wenn die EU zu einer einfachen Zollunion reduziert würde .
Unter Ferner liefen
Neben den von vielen Kommentatoren genannten Gründen für die Anti-EU-Stimmung – Ablehnung von Flüchtlingen und EU-Binneneinwanderung sowie zu viel Brüsseler Bürokratie – dürfte dies in weit höherem Maß als bisher diskutiert mit Verwerfungen zusammenhängen, die derzeit nur "unter Ferner liefen" als Gründe erwogen werden: mit der sozialökonomischen Frage.
Präziser mit dem Umstand, dass es im großteils vereinten Europa, neben vielen Menschen, die von der EU profitiert haben, ebenso viele gibt, die in den vergangenen Jahrzehnten verloren haben. Ökonomische Ungerechtigkeit und Armut sind auch in der EU ein brennendes Problem: Armut wegen Arbeitslosigkeit sowie – umfassender – Armut in Gestalt fehlender Bildungschancen sowie fehlendem Anschluss an die Vorteile der digitalisierten Moderne.
Auf dem Abstellgleis
Unter den Bedingungen des Neoliberalismus geraten immer mehr Menschen aufs Abstellgleis, seit der Banken- und Wirtschaftskrise in beschleunigtem Maß. Das Wirtschaftssystem braucht sie schlicht nicht mehr.
In – noch – ausgeprägten Sozialstaaten wie Österreich werden diese Menschen durch Zahlungen der öffentlichen Hand einigermaßen aufgefangen, was ihnen aber die Perspektivlosigkeit nicht nimmt. In einer sozial weit hierarchischeren Gesellschaft wie der englischen, wo das Sozialsystem darüberhinaus bereits seit Margaret Thatcher ausgehöhlt worden ist, ist das nicht der Fall.
In den zerstörten ehemaligen Industrieregionen Englands wird derlei Armut inzwischen in zweiter Generation vererbt. Dort wird ein jeder zugewanderter Pole oder Rumäne als unliebsamer Konkurrent für die wenigen Hilfsjobs betrachtet. Und es reichen eigentlich schon Erzählungen und Gerüchte über ihn.
Arbeitslose gegen Jobinhaber
Im diesen England hatte der Brexit die höchste Zustimmung. Ebenso in ländlichen Gegenden, wo es wenig Arbeit und Anschluss an die Moderne gibt: eine Parallele zu dem hohen Anteil an Stimmen für FPÖ-Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer am Land in Österreich.
Was also gälte es, in der EU zu unternehmen, um diese "soziale Frage", die im Grunde eine sozialökonomische ist, besser in den Griff zu bekommen? Es müssten die seit Jahrzehnten strikt befolgten neoliberalen Grundsätze der Finanz- und Wirtschaftspolitik aufgeweicht werden: vor allem die Sparpolitik, die öffentliche Investitionen und sozialstaatliche Verbesserungen hemmt. Das dürfte weit schwieriger sein, als es von Seiten Linker zum Teil dargestellt wird. Als Beobachterin kann man den Eindruck gewinnen, dass es selbst auf der gesellschaftskritischen Linken an wirklichen Strategien mangelt.
Armut als Grundrechtsproblem
Auf alle Fälle aber müsste ernsthaft über die Lage der aufs Abstellgleis geschobenen Menschen in der EU gesprochen werden. Ihre Situation müsste als solche wahrgenommen werden, von einem EU-politischen und grundrechtlichen Standpunkt aus, um dieses Feld nicht – wie derzeit – allein den Rechtspopulisten und Rechten zu überlassen.
Dazu braucht es einen intensivierten Diskurs über die Wichtigkeit der sozialen Menschenrechte, die ebenso wie die politischen international verbrieft sind: In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Recht auf soziale Sicherheit, auf adäquaten Lebensstandard, auf Arbeit und freie Berufswahl. In der EU-Grundrechtecharta kommt dies, weit reduzierter, unter anderen als Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung vor
Was beim Forum fehlte
In Wien fand vergangene Woche ein hochkarätiges Forum der EU-Grundrechteagentur (FRA) statt. Dabei ging es um Flüchtlingsschutz, Inklusion/Integration sowie Datenschutz im digitalen Zeitalter Zentrale Themen, doch Fragen der Armut blieben großteils ausgespart. So akut wichtig die Auseinandersetzung mit Asyl, Migration und Überwachung auch ist: da fehlte Entscheidendes. (Irene Brickner, 26.6.2016)