Linz – 1998 ging Gerhard Willert daran, das Schauspiel am Linzer Landestheater zu modernisieren. Klassiker wurden aufgeraut, das Abo-Publikum riss man aus der bis dahin verordneten Beschaulichkeit. Heute, 18 Spielzeiten später, zieht sich der Schauspielleiter ohne Groll zurück, um erst ab Herbst 2017 wieder Arbeitsaufträge anzunehmen. Ab Herbst leitet Hermann Schneider das Landestheater, die Schauspielagenden übernimmt Stephan Suschke.
Willerts Arbeit hat in Linz tiefe Spuren hinterlassen. Der Endfünfziger hat den Franzosen Joel Pommerat für den ganzen Sprachraum entdeckt, er hat ein Ensemble geformt, dessen Karyatiden u. a. Silvia Glogner, Bettina Buchholz, Sven-Christian Habich und Stefan Matousch hießen. Ein Gespräch über die Aufgaben von Stadttheatern in einer sich rapide wandelnden Welt.
STANDARD: In den vergangenen 18 Jahren hat sich der Sendungsauftrag an die Stadttheater stark verändert. Früher waren die Schauspielhäuser bürgerliche "Auskunftsbüros". Heute sind sie atemloser in dem Bemühen, mit den gesellschaftlichen Veränderungen Schritt zu halten. Gilt das für Linz?
Willert: Als ich Ende der 1970er-Jahre in den Regiebetrieb einstieg, habe ich die unmittelbaren Auswirkungen der dann schon Altachtundsechziger mitgekriegt. Das "Theater am Puls der Zeit" war in den 1970ern noch stark spürbar. Da muss man ja nicht bis zum Vietnam-Diskurs von Peter Weiss zurückgehen.
STANDARD: Ein Prozess in Wellen also?
Willert: Manche Stimmen und Formen, die neu auftauchen, erklären sich als Reaktion auf gesellschaftliche und soziale Veränderungen. Auch das Internet ändert etwas im Zusammenleben der Menschen. Dass sich das Theater dessen annimmt, ist normal. In den Nullerjahren gab es die "Selbstoptimierung", die "Ich-AG". Irgendwann nach 2000 haben sich dann die Theater und die bildenden Künste wechselseitig befruchtet.
STANDARD: Sind solche Entwicklungen Nullsummenspiele?
Willert: Ich versuche, zwischen Moden zu unterscheiden und jenen Stimmen, aus denen eine extreme Wachheit spricht. Es geht einfach um einen originellen Blick auf die Realität. Da gibt es eine Zeitlang 50 Castorf-Epigonen, dann tauchen wieder 112 Marthaler-Epigonen auf ...
STANDARD: Die Marthaler-Kopie hat kaum jemand zufriedenstellend hinbekommen.
Willert: Das ist doch logisch. Wie heißt es bei Egon Friedell? "Die minderen Geister erfinden, die Begabten lassen sich inspirieren, und die Genies kopieren."
STANDARD: Manche zeitgenössische Schauspielprogramme wirken so, als könnte man sie in St. Pölten genauso gut wie in Wuppertal machen. Fehlt nicht häufig der Mut zum Alleinstellungsmerkmal?
Willert: Das hängt an den handelnden Personen. Wenn man genau schaut, sieht man doch jede Menge Ausnahmen.
STANDARD: Sind die überall aufpoppenden Romandramatisierungen eine solche Modeerscheinung?
Willert: Die Entwicklung wurde von Frank Castorf angestoßen, weil der Dostojewski für sich entdeckt hatte. Daraus jetzt aber einen Kreuzzug für die Dramatik zu machen und zu behaupten, dass man nur die genuinen Dramatiker spielen soll – das wäre geschichtsvergessen. Was, bitte, hat Shakespeare anderes gemacht, als sich links, rechts, vorne, hinten bei der Prosa von Geschichtsschreibern zu bedienen? Die Frage kann nur lauten: Resultiert aus einem solchen Stoff ein performativer Akt, oder wird Prosa einfach auf ein paar Sprecher aufgeteilt?
STANDARD: Man findet als Schauspielchef in einer mittleren Stadt wie Linz ein Bürgertum vor. Jetzt muss man die Leute abholen. Ging das in Ihren Augen in aller Härte vor sich? Oder hat sich die frühere "Stahlstadt" mit Ihnen verändert?
Willert: Linz hat sich internationalisiert. Man spürt deutlich, dass es sich um einen wirtschaftlich starken Standort handelt. Einige Leute machen hier offensichtlich einiges sehr richtig. Es gibt viele Spezialbetriebe, die in ihrem Fach die Weltspitze repräsentieren. Also sind die Leute auch viel in der Welt unterwegs. Grosso modo ist die Linzer Stadtbevölkerung in den letzten 20 Jahren sehr viel selbstbewusster geworden.
STANDARD: Wie war der Beginn?
Willert: Als wir hier anfingen, war es ein brüsker Einbruch der Moderne. In meinen Augen ist das Theater nicht dazu da, um Antworten zu geben, sondern um Fragen zu stellen. Die resultieren aus einer Suchbewegung – weil Künstler sich nicht "auskennen". Im ersten Jahr gab es große Unruhe. Dem sind wir begegnet, indem wir das Gespräch gesucht haben.
STANDARD: Das ging gut?
Willert: Reaktionäre Pöbeleien waren die Ausnahme. Bei einem großen Teil des Publikums kam die Irritation daher, dass gefragt wurde: "Was ist denn die Botschaft des Abends?" Es gab keine Essenz als Brühwürfel, keine Gebrauchsanweisung. Wir bauten eben nicht "die gute Stube" nach, sondern ließen Leerstellen. Roman Polanski meinte auf die Frage, was denn die Botschaft sei: "If I had a message, I'd send it by the post."
STANDARD: Haben nicht die Kostenrechner an den Theatern das Wort?
Willert: Mit Landeskulturchef Josef Pühringer hatten wir klar die Absprache: Nach drei Jahren muss es funktionieren! Das ist auch vernünftig. Es mag sein, dass die Kommunen bei schrumpfenden Budgets heute nervöser sind.
STANDARD: Sie sind regieführender Intendant. Hat sich der Regisseur Willert beim Intendanten Willert gut aufgehoben gefühlt?
Willert: In den ersten ein, zwei Jahren musste ich mich stark verausgaben, weil ich im Ökonomisieren der Vorgänge noch ungeübt war. Wir hatten und haben aber eine sehr fein gestimmte Maschine hier. Darum sind der Leiter und der Künstler einander nicht ins Gehege gekommen.
STANDARD: Es ist ein Klischee zu meinen, man selbst behält sich die besten Arbeitsbedingungen vor?
Willert: Ich habe mich überhaupt nur deshalb für eine solche Leitungsfunktion entschieden, weil mich vorher in Freiburg, Bremen, Mannheim, Darmstadt, Hamburg ein solches Klima zutiefst genervt hat. Dass in der Leitung Leute sitzen, die denken, sie müssten ihre "Burg" verteidigen. Künstler können einander nichts wegnehmen, sondern einander nur befruchten. Meine Schauspieler arbeiten gerne mit divergierenden Handschriften. Davon haben sie auch viel mehr, als wenn sie sich zu bloßen "Spezialisten" entwickeln.
STANDARD: Sie haben als Übersetzer nebenher brilliert: von Pommerat, von Shakespeare und Molière.
Willert: Ich wäre aus freien Stücken nie auf die Idee gekommen. In Sachen Shakespeare fing das in Bonn an, wo ich vor meiner Linzer Zeit Othello inszenierte. Ich hatte mir eine Übersetzung des Ostdramatikers Werner Buhs ausgesucht. Die hatte mich beim Lesen überzeugt. Nur auf der Probe rutschte das den Schauspielern immer weg. Zu Hause habe ich dann eine Szene übersetzt, nur um zu schauen, woran es liegt. Die brachte ich auf die nächste Probe mit, und alles war gut.
STANDARD: Frank Günthers Übersetzungen überzeugen Sie nicht?
Willert: Der ist hochkompetent, aber so niedlich. Obwohl: "Jeder Hengst kriegt seine Stute – alles Gute!" als Schluss vom Sommernachtstraum ist nicht mehr zu schlagen. (Ronald Pohl, 27.6.2016)