Migranten warten in Calais auf ihre Chance, nach Großbritannien zu kommen.

Foto: AFP PHOTO / PHILIPPE HUGUEN
Quelle: STANDARD

Wer für den Verbleib Großbritanniens in der EU stimmt, akzeptiert eine Fortsetzung der zügellosen Einwanderungspolitik: Kaum ein Argument haben die Brexit-Befürworter im Wahlkampf der vergangenen Monate in Großbritannien so oft und gerne wiederholt.

Migrationspolitik wird damit eines der bestimmenden Themen sein, wenn das Vereinigte Königreich und die 27 übrigen EU-Länder über ihr künftiges Verhältnis sprechen. Die Möglichkeit, in jedem EU-Land zu arbeiten, ist einer der Eckpfeiler, auf denen die Union gebaut ist. Die Briten haben mit ihrem Votum klargemacht, dass sie diese Personenfreizügigkeit nicht mehr akzeptieren.

Die Brexit-Befürworter haben eine genaue Vorstellung davon, wie die britische Einwanderungspolitik künftig aussehen soll. Anfang Juni haben der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der britische Justizminister Michael Gove sowie Arbeitsministerin Priti Patel ein Strategiepapier mit dem Titel "Restoring public trust in immigration policy" vorgestellt.

Vorbild Australien

Die drei konservativen Tory-Politiker fordern darin die Einführung eines Einwanderungssystems nach dem Vorbild Australiens. Australien erlaubt nur die Einreise einer bestimmten Zahl von Arbeitsmigranten, deren Fähigkeiten im Land gefragt sind. Dabei kommt ein Punktesystem zur Anwendung. Wer über eine gute Ausbildung in einem Mangelberuf verfügt, wird eher genommen als Hilfskräfte. Auch Sprachkenntnisse, psychische und die körperliche Gesundheit werden bewertet und getestet. Wer nach Australien einwandern will, muss einen HIV-Test und ein Thorax-Röntgen vorlegen.

Johnson und seine Kollegen schlagen in Großbritannien vor, dieses System ab 2020 auf alle Einwanderer aus der EU und aus Commonwealth-Ländern wie Indien und Pakistan anzuwenden.

Ausnahmen für Iren und manche EU-Bürger

Zwei Ausnahmen soll es geben: Irische Staatsbürger sollen weiter nach Belieben kommen können. Auch für EU-Bürger, die sich bereits "legal" auf der Insel aufhalten, soll es keine Einschränkungen geben. Das wird man in Warschau mit Erleichterung registrieren. Rund 900.000 Polen leben auf der Insel. Sie stellen noch vor den Indern die größte Gruppe der in Großbritannien lebenden Ausländer.

Die EU insgesamt dürfte sich aber schwer damit tun, das Modell zu akzeptieren. Ein Vorschlag lautet ja, Großbritannien im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu halten. Im EWR gibt es keine Zölle. Dafür gilt aber dort auch die Personenfreizügigkeit.

Dass in Großbritannien die Migrationsfrage einen so hohen Stellenwert bekommen konnte, liegt an der zuletzt deutlich gestiegenen Zahl von Einwanderern. Im vergangenen Jahr lag die Nettozuwanderung bei etwa 330.000 Menschen – ein Rekordwert. Wobei zuletzt etwa gleich viele Menschen aus EU-Staaten wie Nicht-EU-Staaten gekommen sind.

Eines der Hauptargumente des Brexit-Lagers war, dass die gestiegene Migration Großbritannien schadet. Viele Einwanderer aus Osteuropa seien ohne fixe Jobzusage ins Land gekommen, sie leisteten also nichts für die Produktivität und schielten vor allem auf Familienbeihilfen.

Junge, gebildete Einwanderer

Genau dieses Argument hat der Ökonom Zsolt Darvas vom Brüsseler Bruegel-Institut in einer vor kurzem veröffentlichten Analyse widerlegt. Darvas hat sich angesehen, wer zwischen 2008 und 2014 nach Großbritannien eingewandert ist. In der Sieben-Jahres-Periode ließen sich 1,9 Millionen Migranten auf der Insel nieder. Laut Darvas sticht heraus, dass überwiegend im Ausland ausgebildete Menschen im Alter zwischen 20 und 35 Jahren ins Land kamen. Diese Gruppe gilt wegen ihres jungen Alters als besonders begehrt am Arbeitsmarkt.

Das schlägt sich in den Statistiken nieder. Die jungen Einwanderer tun sich in Großbritannien leichter, einen Job zu finden als anderswo. Die Beschäftigungsquote der Einwanderer erster Generation liegt bei 76 Prozent. In Österreich, Deutschland, Schweden und Frankreich ist diese Quote deutlich niedriger.

Wie sieht es mit Migranten aus, die das Sozialsystem eher etwas kosten als ihm etwas zu bringen? Gerade 100.000 der 1,9 Millionen Zuwanderer waren jünger als 15 oder älter als 65 Jahre. Nur 0,09 Prozent der Anträge auf Familienbeihilfe wurden zugunsten Angehöriger im Ausland gestellt.

Auf Grundlage dieser Zahlen sei klar, dass Großbritannien wirtschaftlich von der Migration profitiert habe, so Darvas. Die Behauptung, die Menschen kosteten das Sozialsystem mehr, als sie brächten, sei nicht zu belegen. Anzeichen für einen Verdrängungswettbewerb zwischen Migranten und Briten gebe es ebenso wenig. Die Arbeitslosigkeit in Großbritannien liegt bei fünf Prozent und damit nahe dem historischen Tiefpunkt Anfang der 1970er-Jahre. (András Szigetvari, 27.6.2016)