STANDARD: Wie haben Sie als überzeugter Europäer spontan auf den Brexit reagiert?
Cohn-Bendit: Ich habe in einer Nacht alle Gemütsverfassungen durchlebt – zuerst erschlagen, dann wütend, rachsüchtig, und schließlich offensiv. Ich denke mittlerweile, dass es eine demokratische Abstimmung war, die wir rigoros durchsetzen müssen. Wobei es nicht an den Brexit-Gegnern liegen würde, eine neue Abstimmung zu verlangen. Das können nur die Brexit-Sieger. Wenn sie in einem Jahr nach Canossa gehen und sagen wollen, sie hätten sich getäuscht, umso besser.
STANDARD: Boris Johnson, der konservative Abstimmungssieger, äußerte sich auch nicht triumphal.
Cohn-Bendit: Weil er Angst vor den Folgen hat. Und aus Feigheit. Er weiß, dass er sich auf etwas Unmögliches eingelassen hat und dass er in der Abstimmungskampagne unaufrichtig war. Aber wie gesagt: Nur das Brexit-Lager könnte ein neues Votum verlangen.
STANDARD: Die EU-Größen wurden auch auf dem falschen Fuß erwischt.
Cohn-Bendit: Die EU-Kommission hatte die Möglichkeit eines Brexit vorbereitet. Woran niemand dachte, war, dass David Cameron danach selber auf die Bremse steigen würde, um das Austrittsgesuch nicht selbst einreichen zu müssen. Jetzt ist es bis Herbst aufgeschoben, was auch für die EU eine Zeit der Unsicherheit bedeutet.
STANDARD: Während Frankreich Dampf macht, dass die Briten ihren Entscheid schnell umsetzen, hat es Deutschland aber auch nicht eilig.
Cohn-Bendit: Deutschland sorgt sich um seinen drittgrößten Exportmarkt – den britischen. Es ist doch außergewöhnlich zu sehen, wie sich Angela Merkel windet: Sie fragt sich, wie sie den Brexit zwar akzeptieren soll, aber ohne einen wirklichen Brexit zu bewirken; wie sie die Briten als Handelspartner bewahren kann, auch wenn die draußen sind. Zudem will sich Merkel nicht allein, das heißt ohne die liberalen Briten, mit Frankreichs Präsident François Hollande im Boot finden.
STANDARD: Was meinen Sie zum Vorschlag, Großbritannien ein norwegisches oder schweizerisches Statut zu verleihen?
Cohn-Bendit: Diese Länder haben das Schengen-Abkommen übernommen. Es wäre ziemlich kurios, wenn die Briten aus der EU austreten, um danach in den Schengen-Raum einzutreten.
STANDARD: Kommen wir zur Kernfrage: Was soll die EU nach dem Brexit tun?
Cohn-Bendit: In einem ersten Schritt muss die EU endlich ihre Wirtschaft anwerfen, zum Beispiel mit einem "grünen New Deal", der Bildung einer dekarbonisierten Industrie sowie einer wirklichen Hilfe für junge Arbeitslose. Die sakrosankte Ein-Prozent-Grenze für das EU-Budget muss deshalb fallen, und auch Deutschland muss überzeugt werden, in die Tasche zu greifen.
STANDARD: Braucht es einen neuen, per Volksabstimmung abgesegneten EU-Grundvertrag, wie es zum Beispiel Nicolas Sarkozy vorschlägt?
Cohn-Bendit: Nein, das ist vorläufig nicht nötig. Besser wäre eine einfache Wahlrechtsreform, die jedem Wähler zwei Stimmen einräumt – eine für eine nationale, eine für eine gesamteuropäische Liste der Liberalen, Sozialisten, Grünen oder Neonazis. Deren Spitzenkandidaten würden dann ab den nächsten Europawahlen 2019 den nächsten EU-Kommissionspräsidenten unter sich ausmachen.
STANDARD: Nötig ist also mehr Europa – während die Briten der EU den Rücken kehren?
Cohn-Bendit: Ja, gerade jetzt müssen wir an alten Gewissheiten rütteln. Die wichtigste politische Grenze verläuft nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen Proeuropäern und EU-Gegnern. Die Proeuropäer müssen sich zusammenraffen. Dafür muss Merkel die Linie ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble aufgeben. In den nächsten zwei Jahren – bis die Briten austreten – müssen wir auf jeden Fall über die Bildung einer europäischen Souveränität reden.
STANDARD: Trotz der grassierenden EU-Skepsis?
Cohn-Bendit: Ja, wir müssen gegen den Trend gehen. Wobei zu sagen ist, dass die Populisten heute nicht mehr als 30 Stimmenprozent machen. Die Proeuropäer kommen also noch auf 70 Prozent. Sie wissen, dass die EU der einzige Schutz gegen die Globalisierung ist.
STANDARD: Das scheinen zumindest die Briten nicht zu glauben ...
Cohn-Bendit: Weil die EU heute nicht wirklich eine Union ist, sondern nur die Summe der nationalen Souveränitäten. Machen wir Europa wirklich! Schaffen wir eine europäische Armee mit 300.000 bis 400.000 Soldaten; föderalisieren wir den Haushalt. Das wäre nicht zuletzt das beste Mittel gegen die Bürokratisierung der EU, die eben durch die Summe von 28 nationalen Instanzen aufgebläht wird. (Stefan Brändle aus Paris, 28.6.2016)