Boris Johnson kämpfte für den Ausstieg aus der EU, scheint nun aber unsicher, wie es weitergehen soll. In einem Interview sah er weniger weitreichende Änderungen, als von den Brexit-Wählern erhofft.

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Finanzminister Osborne erlebt einen Karriereknick.

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Auch Jeremy Corbyns Laufbahn als Parteichef der Sozialdemokraten könnte sich dem Ende nähern.

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Der amtierende Premierminister David Cameron und seine Regierung haben am Montag den konzertierten Versuch unternommen, nach dem Brexit-Votum die Märkte und das Wahlvolk zu beruhigen. "Großbritannien wendet der Welt nicht den Rücken zu", sagte Verteidigungsminister Michael Fallon im Unterhaus. Armee, Luftwaffe und Marine des Landes würden sich auch weiterhin an EU-Einsätzen, beispielsweise im Mittelmeer und am Horn von Afrika, beteiligen. Finanzminister George Osborne bezeichnete vor Öffnung der Finanzmärkte die britische Wirtschaft als "stark und widerstandsfähig". Dennoch rutschten Aktien und das Pfund weiter ab.

Gleich am Freitag, unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses von 52 zu 48 Prozent für den Brexit, hatte der Zentralbank-Gouverneur Mark Carney die Märkte zu beruhigen versucht: Man sei auf alle Eventualitäten vorbereitet. Auch Osborne betonte erneut die "robusten Notfallpläne". Der Finanzminister gilt als enger Vertrauter des interimistisch verbleibenden Premierministers und bisher auch als dessen wahrscheinlichster Nachfolger.

Diese Kalkulation hat das Votum zunichtegemacht. Spekulationen der Londoner Medien zufolge könnte sich Osborne für den Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson als neuen Tory-Chef und Premier aussprechen. Dieser soll nun doch schon am 2. September und nicht erst im Oktober gewählt werden, wie die Partei Montag beschloss.

Pfund auf Tiefststand

Das Pfund sackte gegenüber dem US-Dollar auf den tiefsten Stand seit 31 Jahren, der Aktienindex FTSE 250 gab deutlich nach. Eine Umfrage des Lobbyverbandes IoD, in dem vor allem kleinere und mittelgroße Unternehmen organisiert sind, ergab übers Wochenende: Ein Viertel hat seine Expansionspläne eingefroren, ein Fünftel erwägt die Verlegung von Firmenteilen in das EU-Ausland, fünf Prozent planen sogar Entlassungen.

Es bestehe "kein Grund zur Panik", teilte Carneys Vorgänger im Amt, Mervyn King, mit. Hingegen sprach Osbornes Vorgänger Alistair Darling davon, er sei "besorgter als während des Finanzcrashs von 2008". Zur Begründung sagte der angesehene Labour-Politiker: "Die Unsicherheit ist sehr, sehr schädlich. Das Land hat weder Regierung noch Opposition."

Labour-Kritik

Die oppositionelle Labour-Partei verbrachte auch den Montag damit, sich gegenseitig zu zerfleischen. Seitdem Parteichef Jeremy Corbyn am frühen Sonntagmorgen den außenpolitischen Sprecher Hilary Benn gefeuert hatte, sind deutlich mehr als ein Dutzend Mitglieder des Schattenkabinetts zurückgetreten.

Corbyn habe das Vertrauen der Fraktion verloren, teilte Partei-Vize Tom Watson mit, der wegen seiner Urwahl durch die Mitglieder Unabhängigkeit vom Chef genießt. Die wirtschaftspolitische Sprecherin Angela Eagle schien den Tränen nahe, als sie der BBC mitteilte: "Ich habe versucht, meinen Job zu machen. Aber der Parteichef muss mit dem Land im Gespräch sein, das kann Jeremy nicht."

Corbyn trudelt weiter

Montagabend beriet die Fraktion über ein Misstrauensvotum gegen Linkspolitiker Corbyn, der seinen Rücktritt verweigert: Er habe das Mandat der Mitglieder, teilte der 67-Jährige mit. Tatsächlich war der frühere Dauerhinterbänkler erst im September mit großem Vorsprung vom Parteivolk gewählt worden. Die Fraktion wirft ihm mangelndes Engagement im Abstimmungskampf vor. Auch habe er die Öffentlichkeit mit widersprüchlichen Angaben zur Einwanderung verwirrt.

In seiner wöchentlichen Kolumne für den Daily Telegraph (Jahreshonorar: umgerechnet 300.000 Euro) widersprach Londons Exbürgermeister Johnson dem Eindruck, die Briten hätten sich beim Brexit-Votum von ihrer Furcht vor Immigration leiten lassen. Für die Zukunft erhofft sich der Favorit auf das Amt des Premiers einen neuen Deal mit der EU: Sein Land wolle weiter freien Zugang zum Binnenmarkt genießen, auch dürfe die Freizügigkeit von Briten, die auf dem Kontinent arbeiten wollten, nicht eingeschränkt werden.

Über solche Äußerungen schütteln Experten die Köpfe. Professor Matthew Goodwin von der Uni Kent hat sich seit Jahren intensiv mit Wählern der rechtspopulistischen Ukip befasst. Seinem Eindruck nach spiegelt das Brexit-Votum ganz eindeutig den Wunsch nach "einer Einschränkung der Freizügigkeit und weniger Immigration" wider. Was, wenn Westminster sich diesem Wunsch entzieht? "Genauso gut könnten sie Benzin ins Ukip-Feuer schütten." (Sebastian Borger aus London, 27.6.2016)