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London ist neben New York die Welthauptstadt des Finanzkapitals.

Foto: Reuters

Nach dem Votum für den Brexit hat in London der "Brexodus", also die massenhafte Verlagerung des Bankgeschäfts in andere EU-Städte, begonnen. 2000 Mitarbeiter von Morgan Stanley sollen schon ihre Umzugskartons packen, wurde in Medien und sozialen Netzwerken übers Wochenende verbreitet. Ähnliche Geschichten kursierten über andere Banken wie HSBC in der Londoner City.

Einziger Haken an der Sache: Die Umzugsgeschichten dürften falsch sein. Ein Morgan-Stanley-Sprecher stellte klar, dass bisher kein einziger Mitarbeiter versetzt wurde. HSBC-Chef Douglas Flint ließ am Montag via Twitter ausrichten, dass die Bank sich weiter "uneingeschränkt" zu ihren Kunden, Mitarbeitern und dem Geschäft in Großbritannien bekennt.

Angedachter Rückzug

Doch unter Analysten wird hitzig darüber diskutiert, welchen Stellenwert solche Versprechen haben. Nicht wenige vom STANDARD befragte Experten gehen davon aus, dass viele Finanzdienstleister der City of London tatsächlich den Rücken kehren werden.

Derzeit gilt, dass jede Bank, jeder Hedgefonds und sonstige Finanzdienstleister eine Lizenz aus einem EU-Land brauchen, um in allen anderen Staaten der Union tätig werden zu können. Ein spanisches Kreditinstitut, das in Österreich um Kunden werben will, muss hier nicht extra eine Konzession beantragen. Möglich macht das der sogenannte EU-Pass für Finanzdienstleister. Die Banken in der City könnten diesen Pass nach dem Brexit verlieren. Um weiter Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten, müssten die Banken eine Konzession in einem der anderen 27 EU-Länder beantragen. Das ginge nicht ohne weiteres.

Ein Pass für die Bank

Um eine Bankkonzession zu erhalten, muss ein Institut lokale Strukturen vorweisen, braucht ein eigenes Management vor Ort, einen Geschäftsplan, erzählen österreichische Finanzaufseher. Banken in London wären also in der Tat gezwungen, einen Teil ihrer Geschäftsbasis nach Frankfurt, Paris oder Wien zu verlegen, wenn sie dort eine Lizenz wollen.

Allerdings gibt es auch alternative Szenarien. Der EU-Pass gilt auch für Banken aus Norwegen und Island. Diese Staaten sind nicht in der EU, gehören aber zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Die Briten könnten eine an den EWR-Vertrag angelehnte Vereinbarung mit den 27 EU-Ländern aushandeln. Diesfalls würde sich für die City nicht viel ändern. Doch gilt im EWR-Raum die Personenfreizügigkeit. Genau gegen diese haben sich die Briten nun ausgesprochen.

Der zurückgetretene britische EU-Finanzkommissar Jonathan Hill warnte in der Financial Times, dass er sich daher nicht vorstellen könnte, dass London eine Blanko-Zugangsberechtigung zum EU-Finanzmarkt bekommen wird. Sein Fazit: Im besten Fall wird sich London an alle EU-Bankenregeln halten müssen, ohne selbst noch mitgestalten zu können.

Umworbene Clearingstellen

Erster Konflikt könnte um die Clearingstellen entstehen. Bei Aktiengeschäften und vielen außerbörslichen Transaktionen ist es üblich, Deals über Clearinghäuser abzuwickeln. Diese übernehmen eine Garantie dafür, dass Verkäufer und Käufer sich an alle Vereinbarungen halten. London ist eine Welthauptstadt für diesen Industriezweig. Auch viele Eurogeschäfte werden über die City abgesichert. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat wiederholt versucht, die Clearinghäuser dazu zu zwingen, in den Euroraum zu übersiedeln. Der Europäische Gerichtshof hat 2015 einer britischen Beschwerde gegen die EZB recht gegeben. Doch nun sind die Chancen groß, dass den Clearinghäusern per Richtlinie der Umzug aus London angeordnet wird. Bisher konnten das die britischen Vertreter in Brüssel verhindern.

Wer bei einem Gezerre zwischen der City of London und dem Rest der EU auf dem längeren Ast sitzt, ist insgesamt schwer abzuschätzen. Denn Londons Gewicht sollte nicht unterschätzt werden. 85 Prozent des von Hedgefonds verwalteten Vermögens werden von der City aus gemanagt. Laut einer Untersuchung des Londoner Center for European Reform haben britische Banken 450 Milliarden Euro allein im Euroraum investiert. Schließlich läuft ein Großteil der Geschäfte von US-Banken über die City ab. Laut einer Berechnung von Aaron Alber, Analyst bei der Raiffeisen Bank International, erwirtschaften die vier größten US-Player 90 Prozent ihres Gewinns in der EU über ihre Londoner Niederlassungen. (András Szigetvari, 28.6.2016)