Der vierjährige Fernando bekommt nicht nur bei Fassiv eine physiotherapeutische Behandlung. Auch seine Mutter wurde eingeschult und führt die Übungen täglich zu Hause mit ihm durch.

Foto: Gregor Kuntscher

Auf zwei Armen saust der vierjährige Fernando Rodriguez auf dem Lehmboden hin und her und lacht die Küken an, die ihn umschwirren. Die Beine, die er wegen einer Geschwulst an der Wirbelsäule nicht bewegen kann, zieht er nach – "wie eine Meerjungfrau", sagt seine Mutter, die täglich physiotherapeutische Übungen mit ihm macht.

Fernandos Familie lebt in San Ignacio de Velasco, einer 52.000-Einwohner-Gemeinde, die rund 480 Kilometer von Santa Cruz de la Sierra, Boliviens größter Stadt, entfernt ist. Dass sie an diesem abgelegenen Ort über Physiotherapie Bescheid weiß, liegt an Irmgard Prestel. Die Österreicherin, die im Ort meist nur "Mutti" genannt wird und inzwischen verstorben ist, gründete dort 1989 das Zentrum Fassiv für behinderte Menschen, das seit 1996 von Licht für die Welt unterstützt wird.

Einbindung der Community

Neben dem Physiotherapieangebot gibt es bei Fassiv Werkstätten, eine Sonderschule sowie Zusatzunterricht für behinderte Kinder, die Regelschulen besuchen. 246 Kinder und Jugendliche und ihre Familien werden auch zu Hause betreut, behandelt und geschult. Fassiv informiert über Rechte, hilft bei Behördenwegen und bindet die Communitys ein.

Inklusion soll in San Ignacio de Velasco gelebt werden. Das ist Prestels Kindern und Kindeskindern, die das Zentrum heute leiten, wichtig: Beeinträchtigte Kinder spielen im städtischen Orchester. Handwerkskunst, die bei Fassiv entsteht, wird in der Stadt verkauft. Die umliegenden Regelschulen werden dazu angehalten, behinderte Kinder aufzunehmen und mit Know-how dabei unterstützt, sie zu inkludieren.

Kooperation mit Gemeinde

Die Prestels sind in San Ignacio eine angesehene Familie mit guten Kontakten zu Politik und Behörden. Die Gemeinde schießt dem Zentrum Geld für Medikamente und den Schultransport zu. Bald soll ein Gesetz verabschiedet werden, das die Kooperation zwischen der lokalen Regierung und der Einrichtung absichert.

Doch San Ignacio ist ein Ausnahmefall. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass 15 Prozent der Menschen weltweit eine Behinderung haben. In Bolivien – einem der ärmsten Länder Lateinamerikas – liegt die Ursache in erster Linie in der schlechten medizinischen Versorgung. Komplikationen bei der Geburt oder unbehandelte Krankheiten bei Neugeborenen und Kleinkindern führen zu bleibenden geistigen und körperlichen Schäden. Hinzu kommt, dass Kinder aus Angst vor Stigmatisierung versteckt oder aufgrund von Armut oder Unwissen vernachlässigt werden. Ein Gesetz aus dem Jahr 2010 sieht zwar etwa die Inklusion beeinträchtigter Kinder ins Bildungswesen vor, doch bemüht sich der Staat nicht um seine Umsetzung.

Bürokratische Hürden

Behindertenverbände protestieren seit Jahresbeginn für die Erhöhung des ihnen zustehenden Pflegegeldes von jährlich 1.000 Bolivianos (130 Euro). Doch die Regierung unter Präsident Evo Morales stellt sich stur. Und das Pflegegeld erhalten die Menschen nur dann, wenn sie einen Behindertenpass beantragen. Viele scheitern an dieser bürokratischen Hürde oder müssen monatelang bis zur Ausstellung warten. Oder sie wissen gar nicht, dass ihnen als Besitzer eines Behindertenpasses eine Pension sowie eine kostenlose medizinische Basisversorgung zustehen würden.

Irmgard Prestel habe an Türen geklopft und nach Familienmitgliedern mit Behinderung gefragt, wird in San Ignacio erzählt. Ähnliches berichtet auch Ruth Mary Ribera, Juristin und Beauftragte für Menschen mit Behinderung im sechsten Bezirk von Santa Cruz de la Sierra.

Auf der Straße ansprechen

Der Bezirk zählt rund 300.000 Einwohner. 100 sind als Behinderte registriert, eine viel zu geringe Zahl, berücksichtigt man die 15-Prozent-Schätzung der WHO. Wenn die Mitarbeiter ihrer Stabsstelle beeinträchtigte Leute auf der Straße sehen, würden sie diese ansprechen und fragen, ob sie bereits einen Behindertenpass hätten, sagt Ribera. Daneben arbeitet man über Nachbarschaftsverbände, organisiert Informationsabende und hängt Flyer aus. Neben der Angst vor Stigmatisierung spiele, vor allem in der Stadt, das Misstrauen gegenüber den Behörden eine große Rolle. Um die Bevölkerung besser erreichen zu können, kooperiert die Bezirksregierung mit Cenaid, einer ortsansässigen NGO. 60 Personen seien in den vergangenen zwei Jahren registriert worden. Das sei "enorm", sagt Ribera.

Für die lokalen Regierungen ist die Zahl behinderter Menschen auch eine Geldfrage: Derzeit bekommen sie kein eigenes Budget für Behindertenprojekte. Sie zweigen das Geld etwa aus dem Topf für die Gesundheitsversorgung ab. Konkrete Zahlen würden ihrer Forderung nach einer Budgeterhöhung Nachdruck verleihen. Doch nicht alle lokalen Regierungen bemühen sich um die Umsetzung von Behindertenprojekten: Auch der sechste Bezirk von Santa Cruz ist ein Ausnahmefall. (Christa Minkin aus San Ignacio, 28.6.2016)