London/Wien – Vier Tage nach der EU-Abstimmung hat der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt ein weiteres Referendum zur Rücknahme des Austritts ins Spiel gebracht. Eine zweite Volksabstimmung könnte stattfinden, wenn Großbritannien eine Übereinkunft mit der EU über die Kontrolle der Zuwanderung schließe, sagte Hunt am Montag. Die EU-Staaten beraten am Dienstag bei einem Gipfel über die Lage.
Treffen der EU-Spitzen am Dienstag
Bevor Großbritannien formell den EU-Austritt beantrage, "sollten wir einen Deal aushandeln und ihn dem britischen Volk vorlegen, entweder in einem Referendum oder (...) in einer Neuwahl", sagte Hunt, der als Anwärter auf die Nachfolge von Premier David Cameron gilt. Die unkontrollierte Zuwanderung aus anderen EU-Staaten hat beim Referendum am Donnerstag zum Sieg des Austrittslagers beigetragen. Es gilt jedoch als fraglich, dass die EU auf einen Antimigrationsdeal einsteigen würde. Die Personenfreizügigkeit ist mit dem Binnenmarkt verknüpft und muss selbst von dem Nicht-EU-Mitglied Schweiz akzeptiert werden.
Cameron wird seinen EU-Kollegen am Dienstag in Brüssel vom Ausgang des Referendums berichten. Am Montag hatte er im Unterhaus betont, dass sich Großbritannien nicht zum Austrittsgesuch drängen lasse. Unmittelbar nach dem Referendum hatten die EU-Spitzen gefordert, dass London umgehend einen Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrags beantragt. Damit begänne eine Frist von zwei Jahren, nach der Großbritannien nicht mehr EU-Mitglied wäre.
Kern gegen "Rosinenpicken"
Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) will rasch Klarheit über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU schaffen. Im EU-Hauptausschuss des Nationalrats räumte er aber am Montagabend ein, dass es juristisch kaum Handhabe gebe, die Briten zum Handeln zu zwingen.
Sonderlösungen für Großbritannien lehnt der Kanzler ab. Ein Rosinenpicken dürfe es nicht geben, betonte Kern laut Parlamentskorrespondenz. Die EU müsse klarmachen, dass es sich beim Austritt um einen Schritt handelt, der Konsequenzen nach sich ziehe und kein Spiel sei. Angesichts einer Expertise der Ratingagentur Moody's zum Brexit meinte er, dass "Österreich wahrscheinlich jenes Land ist, das am wenigsten davon betroffen sein wird".
Neuausrichtung der EU ohne Großbritannien
Mit Spannung wird erwartet, ob beim EU-Gipfel am Dienstag und Mittwoch auch schon über eine Neuausrichtung der EU ohne Großbritannien gesprochen wird. Die Briten hatten in der Vergangenheit wiederholt europäische Lösungen verhindert. Deutschland, Frankreich und Italien kündigten bei einem Treffen am Montag an, der EU mit Vorschlägen zu Sicherheit und Wirtschaftswachstum einen "neuen Impuls" geben zu wollen.
Der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, will die Austrittsverhandlungen jedenfalls spätestens vor der nächsten Europawahl abgeschlossen haben. "Wann die Verhandlungen über den Brexit beginnen müssen, ist weniger wichtig, als dass sie bis zum Mai 2019 abgeschlossen sein müssen", sagte Lambsdorff der "Rheinischen Post". Dann finde die nächste Europawahl statt, und an der könne Großbritannien "natürlich nicht mehr" teilnehmen. "Deswegen brauchen wir jetzt einen verlässlichen Fahrplan, denn Politik und Wirtschaft brauchen Planungssicherheit."
Machtkampf in britischen Großparteien
Unterdessen geriet Großbritannien im Finanzsektor weiter unter Druck. Nach dem Einbruch der Aktienmärkte und dem Verfalls des Pfund stuften die Ratingagenturen Fitch und S&P die Kreditwürdigkeit des Landes herab. Fitch nahm die Einstufung von AA+ auf AA zurück, S&P ging von AAA auf AA zurück. Der Ausblick wurde jeweils mit negativ angegeben.
Unklar ist indes, wie es in Großbritannien politisch weitergeht. Die regierenden Torys gaben am Montag bekannt, dass das Prozedere zur Wahl eines Nachfolgers von Premier Cameron bis 2. September abgeschlossen sein soll. Als aussichtsreichster Kandidat gilt der Wortführer des Brexit-Lagers und ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson. Er könnte aber Konkurrenz von Innenministerin Theresa May bekommen, die sich in der Referendumskampagne zurückgehalten hatte und daher für beide Seiten annehmbar wäre. Schatzkanzler George Osborne, der bisherige Kronprinz Camerons, kündigte in der Nacht auf Dienstag seinen Verzicht an. Seine Pro-EU-Position mache es ihm unmöglich, die Partei zu einen.
Innerhalb der oppositionellen Labour-Partei spitzte sich inzwischen der Machtkampf zu. Bis Montagnachmittag verlor Parteichef Jeremy Corbyn mehr als die Hälfte seines Schattenkabinetts. Die Politiker erklärten ihren Rücktritt von ihren Posten aus Protest gegen den zum linken Flügel gehörenden Corbyn. Dieser schloss einen Rücktritt trotzdem aus. (APA, 28.6.2016)