Bestseller Kaktus: Das Kopenhagener Geschäft Kaktus København verkauft rund 150 Arten.

Foto: Kaktus København

Die Monstera wächst auch auf einem Kissen des Onlineshop The Local House.

Foto: The Local House

Vor ihren fleischigen, geschlitzten Blättern gibt es kein Entkommen: Sie wuchern aus Tontöpfen, geflochtenen Körben oder harren auf Pflanzenständern aus. Einst entfaltete sich die Monstera deliciosa, das köstliche Fensterblatt, im Studio von Henri Matisse, in der Badewanne von Picasso und inmitten des Zuhauses von Ray und Charles Eames in Los Angeles.

Jetzt ranken sich die Fächerblätter durch aufgeräumte Wohnungen, Berliner Concept-Stores, Pinterest und Instagram. Nach Urban Gardening, nach der Aufzucht von Tomaten- und Mangoldstauden in umfunktionierten Gemüsekisten im öffentlichen Raum, macht sich die nutzlose Zimmerpflanze breit. Die Anhänger von skandinavischem Minimalismus und maximaler Aufgeräumtheit dürstet es nach dekorativem Gewuchere, nach Unberechenbarkeit, nach einem Stück Dschungel in den vier Wänden. Damit verknüpft: das Comeback des Mid-Century Modern, jener Ära der Nachkriegszeit, der die Serie "Mad Man" vor einigen Jahren mit Teakholzmöbeln, Philodendren und der Monstera huldigte. Sie stehen für lässige Gemütlichkeit – und die ist wieder gefragt.

Der Hype um die Monstera, die Anfang des 19. Jahrhunderts aus Mexiko nach Europa importiert wurde, kreist aber nicht mehr nur um die Pflanze im Topf. Die Fächerblätter haben sich in Design und Mode als dekoratives Ornament verbreitet: Die Berliner Gestalterin Sarah Illenberger hat eine Monstera mit bunten Papierschnipseln beklebt und abfotografiert, 380 Euro kostet ein Print dieser Bilder. Das skandinavische Modelabel Weekday druckte sie auf Sweater, im Onlineshop The Local House kommt das satte Grün des Monstera-Blattes besonders gut an. Was in den 1980er-Jahren die Fototapete mit Karibikstrand, ist heute die Vliestapete mit Monstera-Muster, auf Instagram finden sich unter dem Hashtag #monstera sagenhafte 45.000 Einträge. Das können nur noch die #succulents mit 1,5 Millionen Bildern toppen.

Die Verbreitung des exotischen Blattwerks schoben vor einigen Saisonen Kakteen und Sukkulenten an. In den 1970er- und 1980er-Jahren endeten sie als verstaubte Eckensteher, heute gelten sie als Indikatoren zeitgemäßen Stilempfindens: Ob kugelig oder groß gewachsen funktionieren die Pflanzen als eigenwillige Gegenstücke zu glatter Aufgeräumtheit. Wer sich heute einen Kaktus ins Haus holt, inszeniert ihn wie eine Skulptur.

Hype um den Kaktus

Oft aber reiche die Beschäftigung mit der Pflanze über das Visuelle nicht hinaus, gibt Wolfgang Papsch von der Gesellschaft Österreichischer Kakteenfreunde zu bedenken. "Viele glauben, dass Kakteen und Sukkulenten pflegeleicht sind. Das ist ein Irrtum." Man müsse sich mit Herkunft und Eigenschaften der Pflanzen auseinandersetzen: "Eine südafrikanische Sukkulente hat andere Bedürfnisse als ein argentinischer Kaktus." Allerdings beschränke sich die Exotik aus dem Blumengeschäft meist auf "extrem reduzierte Standardware, herangezogen in Gran Canaria oder Spanien".

Die dekorative Standardware steht längst bei Modeketten wie & Other Stories als Dekoration in den Filialen, in Kopenhagen widmet sich der Stachelpflanze immerhin ein eigener Shop namens Kaktus København – in rotbraunen Tontöpfen warten dort rund 150 Kakteenarten auf Abnehmer. Wer keine Lust aufs Eintopfen und damit verbundene Piksereien hat, kann Macarons in Kakteenform oder T-Shirts mit Kakteenmotiven kaufen, in den USA landen die Blätter des Feigenkaktus als gegrilltes Superfood auf den Tellern. Ein wenig erinnert der ungebremste Hype um Sukkulenten und Stachelgewächse an die Kaktusmode in den späten 1920er- und den 1930er-Jahren. In der Renaissance waren die ersten Kultivierungsversuche der Kakteenpflanze nach ihrem Import nach Europa gescheitert, im 19. Jahrhundert aber entstanden dank des wiedererwachten Interesses von Botanikern an exotischen Pflanzen aus Mexiko und Amerika die ersten institutionalisierten Herbarien, der deutsche Maler Carl Spitzweg porträtierte 1856 seinen pfeiferauchenden "Kaktusfreund".

Um 1900 brachten Kakteen einen Touch Exotik und die große, weite Welt nach Europa. Die Gesellschaft Österreichischer Kakteenfreunde wurde 1930 gegründet, 1928 fand in Wien die erste Kaktusausstellung im Esterházypark statt, 1935 beherbergte die Hamburger Gartenschau "Planten und Blomen" eine 150 Meter lange Kakteenhalle.

Man war verrückt nach den stacheligen Gewächsen aus fernen Ländern: Die Comedian Harmonists besangen bissig den "Kleinen grünen Kaktus", die Karlsruher Keramikmanufaktur Majolika produzierte exzentrische Kaktusgefäße. Werner Gothein, einer ihrer Gestalter, interpretierte die Popularität des Kaktus damals sogar politisch: "Die brüske Mischung der Extreme in unserer Zeit klingt wider in diesen bizarr verspielten Pflanzen, die aus Schärfen, Spitzen, Ecken, Wechsel von Horizontalen und Vertikalen, aus lauter radikalen Gegensätzen geformt sind." Dieses Zitat klingt gerade sehr modern.

Mittlerweile sind neben Kaktus, Monstera, Aloe vera auch andere Blattformationen in den Fokus gerückt. Der feine Frauenhaarfarn wird in Kokedamas, zusammengeschnürte Mooskugeln, gepflanzt. Dann wären da noch die elegante Ufopflanze und die zungenförmigen Blätter des Bogenhanfs – die "Sansevieria" macht auf Instagram die Runde. Wer aber etwas wirklich Spezielles sucht, sollte sich wohl an die Kaktusfreunde wenden. (Anne Feldkamp, RONDO, 1.7.2016)