STANDARD: Nicht selten steht "Begabung" für Fähigkeiten mit verwertbarem Nutzen, etwa für den Wirtschafts- oder Forschungsstandort. Hängt es vom Kontext ab, was wir als Talent sehen?
Zentner: Die Gesellschaft hat ein Interesse daran, Begabungen zu fördern, die ihr etwas bringen – auch im Sinne der Verwertbarkeit. Das bezieht sich auch auf kreative und soziale Begabungen. Wenn wir die fördern, bringt uns das etwas. Denn es hat viel mit Wertschätzung zu tun, wenn die Talente von Menschen wahrgenommen und anerkannt werden, auch wenn es sich um L'art pour l'art handelt. Und wir wissen aus der Jugendarbeit, wie wichtig es in sozialer Hinsicht ist, dass junge Menschen sich wertgeschätzt und wahrgenommen fühlen.
STANDARD: Würden Sie sagen, dass Talent in jeder Gesellschaft gleich verteilt ist und einfach mehr oder weniger gefördert wird?
Zentner: Talent gibt es mit Sicherheit überall. Es ist aber kulturell unterschiedlich, was wir als Talent wahrnehmen wollen. In Österreich konzentrieren wir uns derzeit stark auf technische und naturwissenschaftliche Begabungen, auf logisches Denken, Zahlenerfassung, den mathematischen Bereich. Dagegen sinkt die Wahrnehmung dafür, was Kreativität und das Finden innovativer Lösungen anbelangt. Früher hat man vom lateralen Denken gesprochen – dem Schaffen von Querverbindungen zwischen Bereichen, die andere nicht sehen. In jedem Fall braucht es zur Talentförderung die Eltern: Sie sollten Kinder auch für Fähigkeiten schätzen, die im Sinne einer Verwertbarkeit direkt nichts bringen.
STANDARD: Was finden österreichische Eltern denn fördernswert?
Zentner: Das kann man nicht pauschal beantworten. In einer Studie, was in Kindergärten zu fördern wäre, nennen Eltern an erster Stelle Sozialkompetenzen, dann Sprache und Technisches. Kreativität und künstlerisches Talent erachten sie als am wenigsten fördernswert.
STANDARD: Hier kommen die Bildungseinrichtungen ins Spiel. Doch können die kreative Begabung überhaupt richtig feststellen?
Zentner: Mit dieser Frage beschäftigt sich derzeit das in Niederösterreich stattfindende Projekt "NÖ begabt 5-7". Darin sollen verschiedene Kriterien für kreatives Denken dargestellt werden. Etwa: Wie neuartig ist der Lösungsansatz, mit dem ein Kind an ein Problem herangeht? Das festzustellen ist nicht so einfach: Was für einen erwachsenen Betrachter vielleicht nicht neuartig ist, kann für ein Kind absolut neuartig sein. Um das Potenzial von Kindern einzuschätzen, muss man den Kontext sehen: Wie viel Vorwissen hat ein Kind, weil es von zu Hause gefördert wird? Und es ist vor allem beim Erkennen von kreativer Begabung strittig, was die ideale Testsituation ist: Sollte man eine Laborsituation schaffen und äußere Einflüsse möglichst draußen halten? Oder geht es um die Herstellung eines kreativen Flows, aus dem etwas entsteht? Ist es kreativ begabt, wenn ein Kind besonders detailgetreu zeichnet? Oder lässt das Kreativität eher vermissen, auch wenn es technisch perfekt ist? Dahinter steht die Frage, was Kreativität eigentlich ist.
STANDARD: Wie wird denn derzeit getestet, welche Talente Kinder haben?
Zentner: Im deutschsprachigen Raum sind viele Tests zur Talentfeststellung sehr sprachbasiert – auch die, die gar keine sprachbasierten Fähigkeiten feststellen wollen. Da stellt sich die Frage, ob das der richtige Weg ist. Denn sprachbasierte Tests benachteiligen nicht nur Migrantenkinder, die schlecht Deutsch können, sondern alle sozial schwachen Kinder, in deren Familien etwa keine Bildungssprache gesprochen wird. Denken Sie an Mathematik: Wenn zu Hause Fachausdrücke wie Quadrat oder Raute verwendet werden, dann haben Kinder aus diesen Familien einen Vorteil beim Verstehen mathematischer Aufgaben.
STANDARD: Man sollte sich also eher ansehen, wie sich Kinder mit unterschiedlichen Startvoraussetzungen entwickeln?
Zentner: Ja, entscheidend ist ein Verlauf: Es macht einen Unterschied, ob jemand aus einer Musikerfamilie oder aus einer unmusikalischen Familie ein musikalisches Talent hervorbringt. Wenn ein Kind ohne besondere familiäre Förderung von einem niedrigen Niveau aus eine Entwicklung von 20 Prozentpunkten macht, ist das wunderbar. Wenn jemand mit bildungsbürgerlichem Background von einem hohen Niveau startet und eine Entwicklung von zwei Prozent macht, ist das verhältnismäßig wenig. In den USA wird bei der Evaluierung der Schulleistung ja weniger auf die Abschlussleistung geschaut, sondern darauf, wie sich Kinder entwickelt haben. Um die Verläufe zu sehen, müssen wir die Kinder länger beobachten. Und es stellt sich die Frage, was das Bildungssystem will: vereinzelt Hochleistung erzeugen – oder möglichst viele Kinder möglichst gut fördern.
STANDARD: Drängt eine herausragende Begabung von selbst hervor oder muss man sie durch Förderung "herauskitzeln"?
Zentner: Ich glaube, dass sich Hochbegabung zeigt. Das Schwierige ist aber die zweite Stufe: Kinder, die begabt sind, aber nicht die absolute Hochbegabung haben. Die sollten wir auf jeden Fall wesentlich besser erkennen und fördern. Denn wir sehen, dass Begabung verkümmert, wenn sie nicht gefördert wird. Nicht selten fallen diese Kinder durchs Schulsystem, weil sie vielleicht eine Schwachstelle in einem Bereich haben.
STANDARD: Welche Rolle spielt das Personal im Kindergarten und in der Schule beim Erkennen und Fördern von Begabungen?
Zentner: Es ist eine Überforderung des pädagogischen Personals, dass es alle versteckten Begabungen erkennen, die Kinder gezielt fördern und auch noch dafür sorgen soll, dass ein normaler Unterricht stattfindet. Da bräuchte es ein anderes Schulsystem – mit mehr dahingehend ausgebildetem Personal. Derzeit ist es so, dass in der Mittelschicht geprägte Lehrerinnen und Lehrer oft "ihresgleichen" erkennen und fördern. Denn sie sind mit einer bestimmten Wahrnehmung davon aufgewachsen, was Talent und Kreativität sind. Da fallen natürlich viele Begabungen raus. (Lisa Mayr, 29.6.2016)