Der Brüsseler Gipfel stand ganz im Zeichen des Brexit. Andere Themen wie etwa die Flüchtlingspolitik traten in den Hintergrund.

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Die neue britische Regierung wird frühestens Mitte September einen formellen Antrag auf Austritt aus der Europäischen Union stellen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass bis dahin in London ein neuer Premierminister im Amt ist, der mit Unterstützung des Unterhauses in London das Ergebnis des Referendums vom vergangenen Donnerstag umzusetzen bereit steht. Dieses Szenario hat der scheidende britische Premierminister David Cameron am Dienstag in Brüssel bei den Gesprächen über das weitere Vorgehen mit den EU-Partnern vorgezeichnet.

Cameron trifft Juncker

Vor September werde es keine Notifizierung gemäß Artikel 50 des EU-Vertrages geben, der den Austrittsprozess regelt, welcher bis zum Abschluss vermutlich zwei Jahre dauert. Cameron traf bereits zu Mittag mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zusammen, um mit diesem Konsequenzen aus der Volksbefragung zu erläutern, bei der eine knappe Mehrheit von 52 Prozent für den EU-Austritt votiert hatte. Die Kommission pocht darauf, dass sie Austrittsverhandlungen führt. Die Regierungschefs wollen dies unter der Regie von Ratspräsident Donald Tusk laufen lassen. Am Nachmittag wurden die Gespräche mit den 27 anderen Regierungschefs beim EU-Gipfel im Ratsgebäude fortgesetzt.

Die Krise mit und in London überschattete alle anderen Themen, die beim Gipfel geplant waren: sowohl Fortschrittsberichte zur Migrations- und Flüchtlingspolitik wie auch die von Außenbeauftragter Federica Mogherini geplante Erörterung der "globalen Sicherheitsstrategie", zu der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg als Gast geladen war.

Unsicherheit beenden

"Es muss jetzt so schnell wie möglich der Prozess zum Austritt Großbritanniens eingeleitet werden", forderte Frankreichs Präsident François Hollande, gleichlautend wie die meisten Ländervertreter. Das Wichtigste sei, mit diesem Schritt die Unsicherheit zu beenden, politisch wie wirtschaftlich. Zentralbankchef Mario Draghi informierte "die Chefs" darüber, dass die Brexitkrise das Wachstum in der Eurozone in den nächsten drei Jahren um 0,3 bis 0,5 Prozent bremsen werde – hunderte Milliarden Euro pro Jahr.

Die EU-27 müssten zu neuer Einheit finden, sagte Hollande. Er räumte ein, dass London dafür "seine Zeit brauche". Sehr rasch war klar, dass jene EU-Spitzen, die die Briten noch am Wochenende zur unmittelbaren Umsetzung des Referendums aufgefordert hatten, die Tücken der britischen Innenpolitik unterschätzten. So ruderte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz zurück: Statt seiner Forderung nach einem Austrittsantrag noch beim Gipfel sprach er nun davon, dass man damit "nicht zu lange warten soll". Die Regie dahinter hatte – wie so oft bei großen Krisen – die deutsche Kanzlerin Angela Merkel geführt: "Es wird keine Verhandlung oder irgendeine Ermächtigung geben, solange Großbritannien keinen Antrag nach Artikel 50 gestellt hat", sagte sie. Erst dann sei zu klären, "wie wir uns weiterentwickeln, aber wir bleiben in vielfacher Weise miteinander verbunden".

Emotionale Debatte

Bei einer sehr emotional geführten Debatte im Plenum des EU-Parlaments am Vormittag hatte Juncker diesen Aspekt betont: Es werde mit den Briten keinerlei Verhandlungen hinter verschlossenen Türen geben, solange der formelle Prozess nicht eingeleitet sei. Für die Union heißt es also abwarten. EU-Ratspräsident Donald Tusk machte klar, dass diese Nachdenkpause zwei Monate dauern wird. Er will im September einen EU-Sondergipfel der 27 Mitgliedstaaten einberufen, ohne Großbritannien.

Am Mittwoch wird man dazu ohne Cameron erste Beratungen führen. Legal bestehe für die EU keine Möglichkeit, die Sache zu beschleunigen. Und wenn der Antrag aus London nicht kommt? "Dann sage ich: Welcome, welcome back!", erklärte Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaitė. (Thomas Mayer aus Brüssel, 28.6.2016)