Juba/Wien – Die Angreifer kamen durch den Hinterhof und begannen auf die Menschen zu schießen, ihre Unterkünfte anzuzünden. Als das Flüchtlingslager im südsudanesischen Malakal von bewaffneten Kämpfern in Militäruniformen am 17. Februar angegriffen wurde, verloren mindestens 40 Menschen ihr Leben, 123 Personen wurden verletzt – fast 20.000 Flüchtlinge hatten keinen Zufluchtsort mehr, weil er niedergebrannt worden war. Die Friedenstruppen der Vereinten Nationen sollten die Menschen auf der Flucht vor solchen Angriffen schützen, doch sie versagten.

In einem Statement sprach der UN-Untersekretär für Friedensmissionen, Hervé Ladsous, von "Unzulänglichkeiten" bei der Reaktion der Soldaten. Laut dem arabischen Nachrichtensender Al Jazeera soll der äthiopische Teil der Friedenstruppen die Posten während des Angriffs verlassen haben, die Soldaten aus Ruanda hätten gar schriftlich angefragt, ob sie schießen dürften – obwohl sie laut Mandat Gewalt einsetzen dürfen, um Zivilisten zu schützen.

Auch fast ein Jahr nach dem Friedensabkommen zwischen den Truppen des südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir und jenen seines Stellvertreters Riek Machar ist das Land von Gewalt erschüttert. Für Marcus Bachmann, stellvertretenden Einsatzleiter der Mission von Ärzte ohne Grenzen im Land, war der Angriff "erschütternd". Fast 24 Stunden hätten die Angreifer im Flüchtlingslager gewütet, in dem jedem Geflohenen rund fünf Quadratmeter Platz zum Überleben bleiben. Drei Gesundheitseinrichtungen seien vor den Augen der Blauhelme zerstört worden, auch zwei Freiwillige von Ärzte ohne Grenzen seien erschossen worden.

Auch in der Hauptstadt Juba wüten Kämpfe. Erst am Donnerstagabend war es zu einem Zusammenstoß von Soldaten und Rebellen in Juba gekommen, bei dem es mehrere Tote gab. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bezeichnet die jüngsten Kämpfe als alarmierend. Die Gefechte in Juba am Vortag des fünften Unabhängigkeitsjubiläums seien "ein neuer Verrat" an den Menschen im Südsudan.

Das Camp in Malakal wurde im Februar 2016 von Angreifern fast vollkommen zerstört.
Foto: APA/AFP/ALBERT GONZALEZ FARRAN

2,4 Millionen Flüchtlinge

Die Vorfälle sind bezeichnend für die labile Sicherheitslage im Land, das im Jahr 2011 die Unabhängigkeit vom Sudan erlangt hatte, nachdem ein Friedensvertrag im Jahr 2005 den 21-jährigen Bürgerkrieg beendet hatte. Doch lange währte der Frieden nicht. Bereits Ende 2013 kam es wieder zu blutigen Kämpfen, nachdem Präsident Kiir seinen Vize Machar aus dem Amt geworfen hatte, weil er einen Putsch geplant haben soll. Erst im August 2015 wurde wieder Frieden geschlossen, im April diesen Jahres kehrte Machar aus dem Exil zurück. Doch noch immer befinden sich bis zu 2,4 Millionen Menschen im Südsudan auf der Flucht – bei einer Bevölkerung von 11,8 Millionen Einwohnern. Erst vergangene Woche wurden nach Kämpfen im Osten des Landes 70.000 Menschen vertrieben.

Wohin die Menschen aus dem Südsudan fliehen.

Die Wirtschaftskrise des Landes hat zu einer Nahrungsmittelknappheit geführt. Die Inflation liegt bei fast 300 Prozent. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen sind 5,3 Millionen Menschen von der drohenden Hungerkrise betroffen. Die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 9. Juli wurden bereits abgesagt.

Erst 39 Prozent des 1,3-Milliarden-US-Dollar-Hilfsfonds (1,17 Milliarden Euro) der Vereinten Nationen waren bis Ende Juni gesammelt, für den UNHCR-Flüchtlingsplan waren es überhaupt nur 17 Prozent. "Die Flüchtlinge leben am Rande der Existenz", sagt Rocco Nuri, Sprecher des UN-Flüchtlingshochkommissariats in der südsudanesischen Hauptstadt Juba. Essenziell sei, dass der Frieden stabil werde und die Menschen in ihre Dörfer zurückkehren können. Deshalb setze er große Hoffnung in die Einheitsregierung, die im April aus den ehemaligen Kriegsgegnern gebildet worden war.

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Vizepräsident Riek Machar (links) und Präsident Salva Kiir (rechts) schrieben einen gemeinsamen Leserbrief an die New York Times". Nur: Machar will nichts davon gewusst haben, wie sich später herausstellte.
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Prozesse nach Bürgerkrieg

Einigkeit wollten Präsident Kiir und sein Stellvertreter Machar auch der westlichen Öffentlichkeit demonstrieren. In einem vermeintlich gemeinsam geschriebenen Leserbrief in der "New York Times" sprachen sie sich im Juni für einen organisierten Friedens- und Versöhnungsprozess mit internationaler Unterstützung aus. Nur wenige Absätze weiter wird allerdings klar, wie dieser Prozess ablaufen soll – nämlich ohne juristische Verfolgung der Kriegsparteien. Solche Prozesse würden die Anstrengungen, das Land zu einen, torpedieren. Wenige Tage nach Veröffentlichung des Briefes stritt Vizepräsident Machar jede Beteiligung an dem Schreiben ab. Kiir beharrt weiterhin darauf, den Text gemeinsam mit Machar aufgesetzt zu haben.

Auch wenn die beiden den Brief nicht gemeinsam verfasst haben, ist der Inhalt für Jehanne Henry von Human Rights Watch "absolut irre". Die Friedensvereinbarung würde Gerechtigkeit beinhalten, niemand dürfe sich der Verantwortung entziehen. Und die Vorwürfe gegen die Regierung wiegen schwer. Obwohl alle Parteien des Bürgerkriegs schwerwiegende und systematische Gewalt gegen Zivilisten ausgeübt haben, lag die größte Verantwortung für diese Taten während des Vorjahres bei den staatlichen Akteuren, heißt es in dem Bericht der UN-Menschenrechtsbehörde von Anfang März. Vor allem das Ausmaß der sexuellen Gewalt sei schockierend. In den Monaten von April bis September 2015 wurden von den Vereinten Nationen 1.300 Vergewaltigungsfälle in nur einem Bundesstaat registriert – dem erdölreichen Staat Unity. Laut Quellen des Berichts soll es Gruppen, die sich mit der Regierung verbündet hatten, erlaubt gewesen sein, Frauen zu missbrauchen. In dem Zusammenhang sprach der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra'ad Al Hussein, von "einer der weltweit furchtbarsten Menschenrechtssituationen".

Bis zu 2,4 Millionen Menschen befinden sich im Südsudan auf der Flucht.
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"Hit-and-run-Strategie"

Eine Charakteristik der ethischen und religiösen Auseinandersetzungen im Südsudan sieht Marcus Bachmann, bis April diesen Jahres stellvertretender Einsatzleiter der Mission von Ärzte ohne Grenzen im Land: "Die Kämpfer verfolgen eine Hit-and-run-Strategie. Besetzen sie ein Gebiet, dann wird systematisch geplündert und die Lebensgrundlagen der Menschen werden zerstört." Kommt eine andere bewaffnete Gruppierung, wiederholt sich das furchtbare Prozedere.

Die Härte des Krieges sei in den Narben der Menschen eingeschrieben. So haben die Geflohenen nur spät Zugang zu medizinischer Versorgung, ihre Wunden infizieren sich leicht durch die Wochen und Monate im Busch oder Sumpf. Laut Bachmann fehlt es vor allem an Medikamenten, die in Wahrheit nicht viel kosten würden. "Der Südsudan hat seit dem Jahr 2013 in seinem Budget keinen einzigen Pfund für Medikamente angesetzt", so der Logistiker. Auch für das Jahr 2016 nicht.

Zur Flüchtlingskrise kommt nun noch eine drohende Nahrungsmittelknappheit, die fünf Millionen Menschen bedroht.
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Helfer in Gefahr

Zudem ist die Arbeit der Hilfsorganisationen im Südsudan nicht leicht. Auf dem Landweg sind die betroffenen Gebiete und Menschen nur schwer zu erreichen. Während der Regenzeit verschwinden die Sandpisten unter dem Schlamm und machen ein Durchkommen mit Autos unmöglich. Außerdem ist die Sicherheitslage fragil. Laut den Vereinten Nationen ist es vor allem im Mai – trotz Bildung der Einheitsregierung – vermehrt zu Angriffen auf humanitäre Helfer gekommen. Drei Menschen wurden getötet. Seit Ausbruch des Bürgerkriegs 2013 wurden 55 Helfer umgebracht.

Die Folge: Seit 2015 fliegen Ärzte ohne Grenzen ihre Krankenhäuser nur mehr an, das Rote Kreuz bringt Betroffenen wichtige Güter nur noch via Luftabwurf. "Das ist viel teurer, als wenn wir die Waren auf dem Landweg transportieren würden", sagt Bernhard Helmberger, Projektkoordinator des Roten Kreuz im Südsudan. Allein die logistische Herausforderung, dass alle Betroffenen über die Abwurfstelle informiert werden, sei enorm – die Menschen wären teilweise wochenlang im Busch unterwegs, um die Hilfsgüter zu erhalten.

Doch das Land, das im weltweiten Entwicklungsranking den 169. von 188 Plätzen belegt, ist nicht nur von der eigenen Flüchtlingskrise betroffen. Auch aus den umliegenden Ländern fliehen Menschen in den Südsudan. Insgesamt 300.000 Menschen aus dem Ausland suchen Schutz im jüngsten Staat der Erde – vor allem aus der krisengebeutelten sudanesischen Region Darfur, wie Helmberger sagt. Wie lange das Land noch die Hilfe der ausländischen NGOs brauchen wird, ist nicht absehbar. "Wir befinden uns seit den späten 1960er-Jahren im Land", so Rocco Nuri vom UNHCR: "Wir haben unsere Mission in den vergangenen 50 Jahren stetig vergrößert. Wir könnten noch sehr viel länger hier sein." (Bianca Blei, 9.7.2016)