Der Schriftsteller Doron Rabinovici kam als kleines Kind aus Israel nach Österreich. In seiner Prosa formt er eine eigene Variante des Deutschen.

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Wien – Das Label "Migrationsliteratur" ist umstritten. Schriftsteller mit Migrationsgeschichte drücken immer wieder ihren Unmut darüber aus, auf ihre Einwanderungsbiografien reduziert und lediglich in diesem Zusammenhang wahrgenommen zu werden.

Das war eines der zentralen Themen der Tagung "Grenzüberschreitungen: Migration und Literatur aus der Perspektive der Literatursoziologie", die vergangene Woche an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien stattfand. "Man wird auf diese Rolle festgelegt, kann sich aber auch aus ihr herausarbeiten", sagte die an der ÖAW tätige Literaturwissenschafterin Wiebke Sievers. Sie wies auch darauf hin, dass es lange gedauert hat, bis sich Autoren mit Migrationserfahrung auf dem Literaturmarkt etablieren konnten. Sievers leitete das an der ÖAW angesiedelte und vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) unterstützte Forschungsprojekt "Literature on the Move", das mit der Tagung abgeschlossen wurde.

Fokus auf dem Text

Lange lag der Fokus in der Forschung zu Migrationsliteratur auf textlichen und sprachlichen Zugängen; man untersuchte das Motiv der Migration, ohne die Biografie der Autorin oder des Autors oder den politischen Entstehungskontext des Textes einzubeziehen. "Literature on the Move" hingegen nahm eine literatursoziologische Perspektive ein und fragte, wie zeitgenössische Autoren mit Migrationsgeschichte das literarische Feld mitgestalten. "Wir betrachten sie nicht als isolierte Gruppe, sondern im Kontext der generellen Verlagslandschaft, also auch in Zusammenhang mit Autoren ohne Migrationshintergrund", so Sievers.

Der erste Teil des Projektes war ein Rückblick ins 20. Jahrhundert. Es zeigte sich, dass die österreichische Migrationsliteratur viel älter ist als ihr Label, das erst in den 1990er-Jahren entstand. Elias Canetti etwa, Milo Dor oder György Sebestyén bilden den historischen Hintergrund für die zahlreichen Fallstudien zeitgenössischer Autoren, die "Literature on the Move" im zweiten Schritt untersuchte. Darunter Seher Çakir, Dimitré Dinev, Anna Kim, Radek Knapp, Julya Rabinowich, Doron Rabinovici, Michael Stavaric und Vladimir Vertlib.

Definierten sich in den 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahren deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die nach Österreich migrierten, ganz selbstverständlich als österreichische Autoren, kam es ab 1970 zu einer Nationalisierung des literarischen Feldes. "In dieser Zeit entwickelte sich das monolinguale Paradigma", sagte Sievers. "Also die Idee, dass die Kreativität einer Person an eine Sprache gebunden ist." Die nächste Entwicklungsphase, die bis heute andauert, verortete die Forscherin ab 1990. Da treten Migranten vermehrt als Schriftsteller auf und besetzen einen fixen Platz im literarischen Feld. Eine "Last der Repräsentation" gebe es aber nach wie vor, sagt Sievers: "Ihre Texte werden als für eine Gruppe repräsentativ gelesen, es geht daher oft wenig um ihre Literarizität."

Mächtige Sprachen

Auch der Schweiz als aussagekräftiges Feld für das Aufeinandertreffen von Sprachen widmete sich die Tagung. Martina Kamm ist Initiatorin von "Face Migration", einer Plattform zur Vernetzung von Migrationsforschern und Kulturschaffenden. Sie sprach über das literarische Feld der Schweiz: Auch wenn hier Deutsch, Italienisch, Französisch und Rätoromanisch aufeinandertreffen und man von einer "transnationalen Literatur" ausgehen könne, sei es schwierig, als Schweizer Autor im Land selbst anerkannt zu werden. Eher, so Kamm, orientiere man sich am Literaturmarkt in Deutschland, Italien und Frankreich. Schriftsteller mit Migrationshintergrund hätten es dabei besonders schwer. Und doch habe in der Schweiz, ähnlich wie in Österreich und Deutschland, in den letzten zwanzig Jahren eine Öffnung stattgefunden: Migrationsliteratur sei unübersehbar geworden. Ihre Wahrnehmung durch das Publikum entspreche aber nicht ihrer Rezeption im akademischen Bereich, so Kamm.

Andrea Reiter, Germanistin an der University of Southampton, analysierte dann den "ästhetischen Widerstand" in Doron Rabinovicis Literatur. Der Autor kam als kleines Kind mit seiner Familie aus Israel nach Österreich. Er habe, so Reiter, sowohl zum Deutschen als auch zum Hebräischen eine Distanz, die ihm ein "Aushorchen der Wörter" ermögliche. Reiter zeigte, wie Rabinovici in seiner Prosa eine eigene Variante des Deutschen formt und wie in diesem sprachlichen Widerstand politisches Engagement steckt.

Die Germanistin Christa Gürtler von der Uni Salzburg beschäftigte sich schließlich mit der Sprache von drei deutsch schreibenden zeitgenössischen Autorinnen: Mit Ann Cotten, die in den USA aufwuchs, mit der italienisch- und deutschsprachigen Südtirolerin Sabine Gruber und mit der Kärntner Slowenin Maja Haderlap, die zunächst auf Slowenisch und später auf Deutsch veröffentlichte. Gürtler kam zum Schluss, dass Mehrsprachigkeit "symbolisches Kapital" mit sich bringen könne; aber nur dann, wenn bestimmte Sprachen involviert sind. Sie wies auf die Machtverhältnisse zwischen Sprachen hin: "Schreiben in einer Minderheitensprache hat einen besonderen Stellenwert im literarischen Feld", so Gürtler. (Julia Grillmayr, 3.7.2016)