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Wo heute ein Hotel mit Prachtblick auf die Stadt Wien untergebracht ist, litten einst Hunderte von Heimkindern. Ihre Schadenersatzansprüche sind aber verjährt, sagen die Gerichte.

Foto: AP / Ronald Zak

Wien – Der Skandal um die systematische Misshandlung von Kindern und Jugendlichen in Wiener Heimen wird nun – indirekt – ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Der 61-jährige Wiener Theaterregisseur und Künstler Karl Welunschek, einst Heimkind und heute "Weltreisender" (so nannte er sich jüngst in der "Tiroler Tageszeitung"), wird sich nicht mit den Entscheidungen der österreichischen Zivilgerichte abfinden. Sein Anwalt, Johannes Öhlböck, hat die Beschwerde bereits vorbereitet und wird sie im Juli einbringen.

Um zu erklären, wie die Kinderheim-Causa von Wien nach Straßburg kommt, ist ein Blick zurück nötig, zunächst ins Jahr 2011 und dann in die sehr, sehr finsteren Ecken der 1950er- bis 70er-Jahre. 2011 wurden nach Recherchen des "Kurier" über das städtische Kinderheim am Wiener Wilhelminenberg die fürchterlichen Zustände in den Kinderheimen in den genannten Jahrzehnten bekannt. Dort herrschten oft Gewalt und Missbrauch jeglicher Art, tausende Kinder waren betroffen, verloren neben Kindheit und Jugend auch ihre Zukunft. Herausragendstes Beispiel: das 1977 über Nacht geschlossene Heim Wilhelminenberg. Ihm widmete sich eine von der Stadt Wien eingesetzte Kommission in einem 2013 veröffentlichten Bericht.

Die Stadt Wien zahlte den Opfern Entschädigungen zwischen 5.000 und 35.000 Euro; laut Sozialstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) haben sich bis Ende März (da lief die Frist aus) 3.000 Opfer gemeldet, die Stadt habe 52 Millionen Euro ausgeschüttet. Das könne aber nur "ein Symbol" sein, zitiere sie "orf.at" im März.

"Hölle auf Erden"

Karl Welunschek bekam 30.000 Euro und Kostenübernahme für 80 Therapiestunden. Der Arbeitersohn war wegen eines Sehfehlers in der Sonderschule für behinderte Kinder gelandet, danach in kirchlichen Heimen und, 1971, in solchen der Stadt Wien. "Die Hölle auf Erden", wie er später im "Kurier" sagen sollte.

Die Stadt Wien zahlte unter dem Hinweis, dass "Ihnen natürlich auch weiterhin der Rechtsweg offensteht" – und Welunschek ging diesen Weg auch. Im März 2014 klagte er die Stadt Wien als Trägerin des Heimes auf 100.000 Euro Schadenersatz, zudem solle die Stadt die Haftung "für sämtliche Schäden aus seiner körperlichen, seelischen und sexuellen Misshandlung übernehmen", die ihm in den städtischen Heimen zugefügt wurden.

Welunschek verlor die Klage in allen Instanzen – immer mit der Begründung, die Ansprüche seien verjährt. Auch alle anderen Opfer, die geklagt haben, sind an dieser Hürde gescheitert. Welunscheks Anwalt ging bis zum Obersten Gerichtshof (OGH) – nachdem das Oberlandesgericht Wien (OLG) die ordentliche Revision zugelassen hatte (was selten vorkommt). Juristisch geht es um die komplexe Frage, welche Verjährungsfrist (drei, zehn, 30 oder 40 Jahre) gilt – beziehungsweise wann sie zu laufen beginnt.

Welunscheks Anwalt Öhlböck argumentierte sinngemäß, die Ansprüche seien aufrecht, weil die verdrängten Erinnerungen an die Qualen bei Welunschek erst 2011 (als der Skandal öffentlich wurde) wieder wach wurden – die Verjährungsfrist habe erst ab da laufen können. Der OGH sah es anders.

Öhlböck meint nun, dass die so ausgelegten Verjährungsregeln das Menschenrecht auf Freiheit und Sicherheit verletzten, ebenso die Achtung des Privat- und Familienlebens. Zudem widersprächen sie dem Unionsrecht. "Gerade im Fall der Heimkinder stößt der Zweck der Regeln, Rechtssicherheit zu schaffen, an seine Grenzen", argumentiert er. Und: Da geschehe "doppeltes Unrecht", weil die Täter Schuld trügen, dass die Opfer ihre Erinnerungen so lange unterdrückt hatten. Seine und Welunscheks Hoffnung auf Erfolg sind gering. "Bisher haben wir leere Kilometer gemacht, aber wir gehen den Weg zu Ende."

Eine formelle Entschuldigung der Stadt Wien bei den Opfern in Form eines Festakts hat übrigens nie stattgefunden. (Renate Graber, 1.7.2016)