Auch 24 Stunden nach der Schließung der Wahllokale befand sich Australien am Sonntagabend in einem Machtvakuum. Weder die seit 2013 regierende liberal-nationale Koalition unter Premierminister Malcolm Turnbull noch die bisher oppositionelle Labor-Partei hatten es geschafft, mindestens 76 der insgesamt 150 Sitze im Repräsentantenhaus zu sichern. Vorab eingereichte Stimmen sowie Briefwahlstimmen werden erst am Montag weiter gezählt. Somit wird Australien wohl bis Dienstag keine Regierung haben.
Der sonst eloquente Premierminister Malcolm Turnbull zeigte sich am Samstag zuversichtlich, noch ein Mandat für seine Koalition zu sichern. Nur seine Regierung könne garantieren, dass Australien politisch stabil sei.
Labor-Partei legt zu
Genau das wird von Beobachtern bezweifelt. Wahlanalysten gehen davon aus, dass sich die Partei mit den meisten Stimmen unter Mitgliedern kleinerer Parteien Partner suchen muss – in Australien erfahrungsgemäß ein Garant für Instabilität. Im bisherigen Parlament hatte die Koalition mit 90 Sitzen eine solide Mehrheit, Labor nur 55. Prognosen zufolge dürften fünf Sitze an kleinere Parteien gegangen sein. Konservative zeigten sich am Sonntag schockiert darüber, dass die sozialdemokratische Labor-Partei wahrscheinlich deutlich zugelegt hat und in einigen Wahlkreisen sogar prominente Abgeordnete der Regierung verdrängen konnte. Labor-Chef Bill Shorten, ein ehemaliger Gewerkschaftsführer, hatte verstärkte Ausgaben für Gesundheitsversorgung und Schulen versprochen. In den letzten Tagen hatte er behauptet, die konservative Koalition haben einen "geheimen Plan" zur Abschaffung des staatlichen Gesundheitssystems Medicare.
Turnbull, ein ehemaliger Geschäftsmann und erfolgreicher Anwalt, hatte in erster Linie Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum versprochen. Ein Plan zur Steuersenkung für Unternehmen entwickelte sich allerdings zum Querschläger, als bekannt wurde, dass vor allem globale Großunternehmen davon profitieren könnten.
Bereits am Sonntag wurde zum Teil heftige Kritik an Turnbull laut, der vor knapp 10 Monaten Premier Tony Abbott vom Sessel gestoßen hatte. Die Hoffnung progressiver Australier auf eine Aufweichung der harten Politik Abbotts zerschlug sich allerdings, als Turnbull viele Programme seines Vorgängers übernahm. Beobachtern zufolge soll er mit den dominierenden konservativ-christlichen und klimawandelskeptischen Kräften eine Abmachung getroffen haben, ihn dafür in Ruhe zu lassen. Diese Schonfrist könnte für Turnbull bald enden. Der ultrakonservative Kommentator Andrew Bolt, ein Anhänger Tony Abbotts und Sprachrohr des rechten Flügels der Konservativen, forderte den Rückzug Turnbulls. (Urs Wälterlin aus Sydney, 3.7.2016)